Der Sturz von Bashar al-Assad geht auf die Erhebungen in zahlreichen arabischen Ländern vor über zehn Jahren gegen die sie beherrschenden Diktaturen zurück.

Die Syrer haben es getan. Der Sturz des Regimes von Bashar al-Assad war eine Revolution, eine Umwälzung. Er ist die Vollendung des Aufbegehrens, dann des Aufstands, der im Spätwinter 2012 im Zeichen des sogenannten Arabischen Frühlings in Syrien begann.
Die zeitliche Ausdehnung bezeugt schon den historischen Charakter des Geschehens – Syrien und die Syrer gehörten über 50 Jahre quasi als Privatbesitz der Familie Assad, in die friedlichen Demonstrationen der Jahre 2011 und 2012 wurde gnadenlos hinein geschossen, es folgten Luftangriffe und Giftgaseinsätze gegen die Zivilbevölkerung und ausländische Interventionen zugunsten des Regimes. So ging das jahrelang. Europa sah achselzuckend zu und klagte über die vielen Flüchtlinge.
Die europäische Unfähigkeit, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, steht in einem nur noch grotesk zu nennenden Missverhältnis zu den Herausforderungen, die nun im Nahen Osten auf den Kontinent zukommen.
Der Krieg der Assads und ihrer Verbündeten gegen die Syrer wurde schließlich um die Jahre 2018/2019 eingefroren, was für die Syrer einfach nur hieß, dass sie bestenfalls als ungeliebte Flüchtlinge irgendwo neu anfangen durften, schlechterenfalls in einem vergessenen Flüchtlingslager in Idlib vergammelten oder unter der Gnade Assads mit UN-Lebensmittelrationen überlebten.
Die Hauptsache war, dass die Zahl der wöchentlichen Toten durch die Kämpfe und Beschießungen, die es weiterhin gab, unter der internationalen Aufmerksamkeitsschwelle blieb. Und in den Zeitungen stand ja auch weltweit, dass Assad gewonnen habe. Es waren Syrer selbst, die mit diesem unwürdigen, erbarmungslosen Zustand Schluss gemacht haben. Darin liegt die überraschende und revolutionäre Größe ihrer Tat.
Antiimperialismus at its best
Keine einzige der vielen Mächte, die in Syrien interveniert und das Land wie einen Spielbankchip auf ihren großen und kleinen Plänen herumgeschoben haben, wollte den Sturz Assads. Keine einzige. Am schönsten wurde das in jenen historischen Stunden deutlich, als in Katars Hauptstadt Doha noch einmal die Türkei, Russland und Iran bei einem nächtlichen Außenministertreffen über Syrien würfelten, während in Damaskus bereits die Assad-Statuen stürzten. Antiimperialismus at its best.
Und wie es sich für eine ordentliche Revolution gehört, wird sich nun das mentale und politische Territorium des Nahen Osten dramatisch verändern. Das iranische Imperium existiert seit vergangener Woche nicht mehr. Es sind davon nur noch ein paar im wahrsten Sinn des Wortes beziehungslose Trümmerstücke übrig geblieben. Dieses Imperium aber war das Herzstück des Regimes in Teheran, sein einziges erfolgreiches Projekt. Es ist schwer vorstellbar, wie die Islamische Republik das Jahr 2025 unverändert überleben sollte.
Wahnhafte Rückkehrdebatte
Wie unfähig Europa mittlerweile ist, sich mit etwas anderem als den eigenen Befindlichkeiten und Ängsten zu beschäftigen, hat diese Revolution ebenfalls demonstriert. Kaum dass es eine Anstandsminute der Anteilnahme, gar der Freude gegeben hätte, schon erheben sich mahnende Zeigefinger: Die Islamisten kommen!
Gleichzeitig begann der Kontinent eine wahnhafte Rückkehrdebatte. So schnell kann man gar keinen Präsidentenpalast plündern: Wann gehen sie denn nun die Syrer, morgen erst, oder nicht besser schon gleich? Überhaupt, richtige Veränderungen, die würde man hierzulande gerne gesetzlich verbieten. Die europäische Unfähigkeit, sich mit der Realität auseinanderzusetzen, steht in einem nur noch grotesk zu nennenden Missverhältnis zu den Herausforderungen, die nun im Nahen Osten auf den Kontinent zukommen.
Wenn man nicht verdrängt, wie Millionen Syrer in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten bereits in langen Elendszügen durch die Hölle marschiert sind, ist verständlich, dass so viele von ihnen den Vormarsch der seltsam gewandelten islamistischen Hay’at Tahrir al-Sham (Organisation für die Befreiung der Levante, HTS) als Befreiung feierten, und zwar eben nicht nur sunnitisch-arabische Teile der Bevölkerung. Wieso ist das eigentlich so schwer zu begreifen?
Und ja, es ist irritierend, dass Islamisten, die mit ihren Beteuerungen, keine religiösen Minderheiten unterdrücken zu wollen, klingen, als hätten sie eine Diversity-Schulung besucht, sich nun als die Erben jenes tunesischen Obsthändlers erweisen, dessen Selbstverbrennung 2010 den Sturz der ältesten Diktaturen des Nahen Osten auslöste.
Es ist ein Teil der syrischen Tragödie, dass nicht die Massenprotestbewegung vor über zehn Jahren, sondern erst jetzt eine bewaffnete Aufstandsarmee den Diktator stürzen konnte. Aber ohne Widersprüche anzuerkennen, wird man die Vorgänge in Syrien weder verstehen noch sinnvoll darauf reagieren können. Was aber auch, genau besehen, egal ist. Glückwünsche nach Damaskus!