Seit 2017 führt Wadi gemeinsam mit Partnern vor Ort eine umfassende Kampagne gegen Gewalt an Kindern in Schulen und Dörfern im gesamten irakischen Kurdistan durch. Die Kampagne ist direkt vor Ort in Schulen und Dörfern aktiv. Sie zielt darauf ab, Gewalt gegen Kinder zu unterbinden und gewaltfreie Konfliktlösungsmethoden zu fördern, ohne dabei die Autorität von Lehrer*innen und Eltern zu untergraben.
Zum Hintergrund:
Die Kampagne Nein zu Gewalt! ist eine Erweiterung der seit 15 Jahren erfolgreichen Wadi-Kampagne „STOP FGM“ zur Abschaffung weiblicher Genitalverstümmelung (FGM) in Kurdistan. Im Rahmen von FGM-Prävention mussten wir uns immer wieder auch mit Problemen im Zusammenhang von häuslicher Gewalt, Kinderheirat und geschlechtsspezifischer Diskriminierung befassen.
„Wir haben Gewalt von Lehrern erlebt: verbal, physisch und emotional. Und die Kinder erfahren die selbe Gewalt auch zuhause. Dadurch entsteht bei ihnen ein emotionaler Riss.“ (Eine Wadi Mitarbeiterin über Gewalt an Schulen)
Während dieser langjährigen Arbeit haben wir erkannt, dass der Gewaltkreislauf und die allgemeine Gewaltkultur nur gestoppt werden können, wenn die Ursachen angegangen werden. Gewalt ist ein Teufelskreis, der sich selbst verstärkt. Wenn ein Elternteil oder ein Lehrer ein Kind schlägt, gibt das Kind die Gewalt oft weiter, schlägt zum Beispiel andere Kinder oder misshandelt sie. Wir wollen diesen Kreislauf unterbrechen. Gewalt darf kein Mittel der Disziplinierung mehr sein, weder von Lehrern noch von Eltern. Gewalt muss aus dem gesamten gesellschaftlichen und politischen Leben verschwinden.
Alle Formen körperlicher Gewalt zu beenden, ist für uns der erste Schritt auf dem Weg dahin, andere Formen der Konfliktlösung und Deeskalation zu entwickeln und Lehrern und Eltern zu zeigen, wie sie ihre Autorität auch ohne Gewalt aufrechterhalten und ihre Kinder gewaltfrei erziehen können.
Gewalt ist allgegenwärtig
In Kriegs- und Krisengebieten ist Gewalt allgegenwärtig. Sie lebt in den Erinnerungen und Erfahrungen der Menschen und setzt sich in Familien und Schulen fort. Die Erinnerung an Gewalterfahrungen und traumatische Erlebnisse wurde – bis auf den Bau von Mahnmalen – im Irak und in Irakisch-Kurdistan bisher kaum thematisiert. Dabei werden diese Erfahrungen und Erinnerungen dort über die Generationen hinweg weitergegeben. Seit Ende der 1970er Jahre führte die Baath-Regierung Saddam Husseins einen grausamen Krieg gegen das kurdische Volk im Norden des Landes, in dem Städte und Dörfer systematisch zerstört, Hundertausende aus ihrer Heimat vertrieben und deportiert wurden. Zur Kriegsführung gehörte auch der Einsatz von Chemiewaffen gegen die Zivilbevölkerung. Diese Erfahrung prägt bis heute das öffentliche und private Leben.
Geschichte des Irak ist von vielfältigen Formen der Gewalt geprägt
Heute ist der Nordirak als Ganzes mit einer Reihe von Krisen konfrontiert: die langfristigen Nachwirkungen des Kampfes gegen den „Islamischen Staat“, die Auswirkungen von COVID 19, Rezession und das Ausbleiben von Gehaltszahlungen selbst bei Beamten (einschließlich Lehrern), sowie die Ankunft Hunderttausender Vertriebener aus dem Zentralirak und Syrien. Die Erinnerung an Gewalt und Terror wurde nicht wirklich aufgearbeitet, abgesehen von der Errichtung von Mahnmalen und der Abhaltung von Gedenktagen für die Opfer.
Für die Lebenden wurde wenig getan. Für sie ging die Gewalt weiter. Es gab einige Fortschritte im Wirtschafts- und Bildungsbereich, aber gerade in Bezug auf soziale Dienstleistungen bleibt die Region weiterhin unterversorgt.
Kinder sind besonders betroffen
Wie häufig leiden Kinder am stärksten unter den Defiziten: Sie haben die wenigsten Möglichkeiten, ihre Rechte durchzusetzen, sie sind stark von anderen abhängig und sind – in einer Gesellschaft, in denen sie von Familien als „Eigentum“ angesehen werden, besonders anfällig für Gewalt. Diese Gewalt äußert sich in körperlicher und seelischer Misshandlung, Bestrafung, Vernachlässigung und Körperverletzung. Sie findet in Familien und Schulen statt. Eltern geben die eigenen Gewalterfahrungen an ihre Kinder weiter, Lehrer an ihre Schüler. Häufig haben sie dabei gute Absichten – es ist für sie einfach nur ein vertrautes und wirksames Mittel der Erziehung. Dabei haben jahrzehntelange Forschungen gezeigt, dass körperliche Bestrafung der Entwicklung und dem Wohlbefinden von Kindern schadet und auch zu schlechteren Bildungsergebnissen führt.
Wie wir Veränderung erreichen wollen
Vor Beginn unserer Kampagne Nein zu Gewalt! haben wir Hunderte von Kindern im Rahmen unserer Spielbus-Aktivitäten nach den größten Problemen in ihrem Leben gefragt. Die Kinder thematisierten immer wieder die Angst, von Lehrern oder Eltern geschlagen, gemobbt oder angeschrien zu werden; bei Mädchen kam die Angst vor Misshandlung aufgrund ihres Geschlechts hinzu. Auch mit Lehrern, Sozialarbeitern, Eltern und Schulverwaltern haben wir viele Gespräche geführt, um ihren Standpunkt zu verstehen. Wir haben mit ihnen besprochen, wie wir helfen können, den Kreislauf der Gewalt zu durchbrechen.
Unsere Kampagne ist nicht anklagend. Unsere Teams kritisieren die bisherigen Sichtweisen von Schulpersonal oder Eltern nicht; sie machen lieber einen „sauberen“ Schnitt. Wir wollen die Vergangenheit hinter uns lassen und es in Zukunft besser machen. Scham und Schuldgefühle bei den Erwachsenen helfen da wenig; die meisten Erwachsenen sind selbst mit Gewalt großgeworden und haben sie immer wieder als normal erlebt. Niemand hat ihnen erklärt, wie man gewaltfreien, aber effektiven Unterricht gestalten kann oder wie man Kinder gewaltfrei großzieht. Daher sollte man erst einmal die Vergangenheit akzeptieren, aber für die Zukunft dafür sorgen, dass Gewalt und Angst nicht länger in der Schule regieren und zur Disziplinierung eingesetzt werden.
Schulen, die ihre Ablehnung von Gewalt öffentlich bekunden und damit über die Medienberichterstattung als Multiplikatoren wirken, werden von der Kampagne anerkennend als „Gewaltfreie Schule“ zertifiziert.
Im ersten Jahr des Projekts nahm nur eine Schule teil, aber in diesem einen Jahr verbesserten sich Verhalten und Lernerfolge der Kinder dramatisch. Mehrfach wurde über diesen Erfolg in kurdischen Lokalmedien berichtet. Der Schuldirektor erzählt in diesem Interview ausführlich davon.
Schon das erste Jahr zeigte Erfolge
Dieses Ergebnis hat in Verbindung mit der Öffentlichkeitsarbeit von Wadi dazu geführt, dass das Projekt zu einem echten Erfolg geworden ist: 2022 haben sich 17 Schulen dazu verpflichtet, auf Prügelstrafen und körperliche Misshandlung von Kindern zu verzichten. Sie wurden zu „Gewaltfreien Schulen“.
Weitere Schulen haben sich bereits für das Programm angemeldet. Die Lehrer*innen dort werden in gewaltfreier Pädagogik geschult und erhalten bei der Umsetzung umfangreiche Unterstützung. Auch die Eltern werden bei den Schulungen zu Gewaltfreiheit und Konfliktlösung einbezogen. In Gesprächen und Veranstaltungen mit den Kindern werden die Teilnehmer*innen ermutigt, für ihre Rechte einzustehen. Sie lernen, wie sie sich bei Missbrauch verhalten und wo sie Missbrauch melden können.
Gewaltverzicht gemeinsam üben
Wadi hat sich über die Jahre in der Region viel Respekt erarbeitet und gilt als vertrauenswürdiger Partner. Deshalb können wir die Ergebnisse unserer Kampagnen gut über die Regionalmedien kommunizieren – unsere Botschaften werden gehört!
Wir können auf Schulen verweisen, die sich entschieden haben, auf Gewaltanwendung zu verzichten und daraufhin sehr positive Resultate erzielt haben: Bessere Prüfungsergebnisse, zufriedenere Lehrer und zufriedenere Kinder zeigen, dass diese Methoden wirken.
„In diesem Jahr hatten wir häufig Besuche von Wadi und dank ihnen bemerken wir eine Abnahme der Gewalt sowie eine gleichzeitige Zunahme der bestandenen Prüfungen mit einer Quote von 70%. Das Thema der Gewalt betraf uns dabei schon zuvor, weil sich Erfahrungen mit Gewalt generationsübergreifend niederschlagen. Wir hoffen uns mit Lehrern von anderen Schulen zusammensetzen und mit ihnen unsere Erfahrungen teilen zu können, damit sie vielleicht unserem Beispiel folgen.“ (Aus einem Interview mit einem Direktor einer Partnerschule“
Bloße Appelle, dass Gewalt schlecht oder böse sei oder dass man das Schlagen einstellen solle, bringen im Grunde genommen nichts. Im Gegenteil: Sie bringen Eltern und Kinder noch gegeneinander auf, provozieren Widerstände gegen unsere Mitarbeiterinnen und führen insgesamt zu Entfremdung. Deshalb haben wir uns für die positive Message entschieden: Wir kommunizieren geradeheraus, wie effektiv gewaltfreie Erziehung sein kann, wie man Gewaltverzicht leben kann und wie man damit erfolgreich ist.
Zu unserer Kampagne gehören auch Seminare für Eltern, Lehrer und Kinder über Methoden der gewaltfreien Konfliktlösung, über das Gesetz zur Bekämpfung häuslicher Gewalt und nicht zuletzt über Möglichkeiten psychosozialer Unterstützung. Ziel dieser Seminare ist Aufklärung über den gesamten Themenkomplex Gewalt und letztlich die Verbesserung des Bildungswesens.
Schulen, die ihre Ablehnung von Gewalt öffentlich bekunden und damit über die Medienberichterstattung als Multiplikatoren wirken, werden von der Kampagne anerkennend als „Gewaltfreie Schule“ zertifiziert.
Unsere langfristigen Ziele
Wir wollen mit unseren Aktivitäten einen Raum schaffen, in dem gewaltfreie Lösungen Normalität werden. Deshalb thematisieren wir Gewalt gegen Kinder immer wieder neu – sowohl offline in den Regionalmedien wie auch online in den sozialen Netzwerken. Wir wollen den Diskurs bestimmen, damit Körperstrafen und Gewalt ihre gesellschaftliche Akzeptanz verlieren und in Zukunft nicht mehr als normale Methode in der Kindererziehung und im Bildungssystem gelten. Wir haben in der Vergangenheit gesehen, dass solche Veränderungen ziemlich schnell passieren können; es ist unser Ziel, dass diese Generation den Kreislauf der Gewalt durchbricht und an einen Punkt gelangt, an dem Gewaltanwendung nicht mehr als normal oder auch nur akzeptabel angesehen wird. Wir sollten auch daran erinnern, dass die Ablehnung von Gewalt selbst in westlichen Ländern noch relativ jung und bis heute umstritten ist.
„Aus meiner Sicht ist diese Kampagne ein Funken Licht in der Dunkelheit, bei der die Frage gestellt wird: „Erziehen wir unsere Kinder richtig?“ Natürlich war es anfänglich schwer. In unseren Seminaren erzählten uns Leute: „Es ist okay Kinder zu schlagen; es ist nichts Bedeutsames“. (Eine Wadi Mitarbeiterin über die Kampagne)
Viele von uns können sich noch an körperliche Züchtigungen in der Schule erinnern. In Ländern, die Gewalt gegen Kinder unter Strafe gestellt haben, fand oft ein schneller gesellschaftlicher Wandel statt, der Kindern mehr Rechte garantierte – Rechte, die eigentlich selbstverständlich sein sollten. In Deutschland beispielsweise wurde das Gesetz zum Verbot der körperlichen Züchtigung an Schulen erst 1983 auf Bundesebene umgesetzt. Heute ist es unvorstellbar, dass ein Lehrer im Klassenraum Gewalt anwendet.
Ein Beispiel für den Nahen Osten
Unser zweites langfristiges Ziel ist, dass dieses Pilotprojekt zu Veränderungen in allen kurdischen Gebieten des Nordiraks und sogar im ganzen Land führt und so dazu beiträgt, die Gewalt in Schulen, die im Nahen Osten weit verbreitet ist, endlich zu beenden. Human Rights Watch hat ermittelt, dass in der MENA-Region nur 2 von 19 Ländern offiziell körperliche Züchtigung an Schulen verbieten. Selbst in diesen Ländern – Tunesien und Israel – ist nicht ganz klar, wie umfassend diese Gesetze umgesetzt werden. Einer der Gründe für dieses weit verbreitete und alltägliche Problem liegt in der Beziehung zwischen Lehrer und Schüler, die sich in den letzten Jahrzehnten nicht weiterentwickelt hat. Lehrer gelten meist als maßgebliche, allwissende Persönlichkeiten, die Respekt verlangen und Anordnungen erteilen können. In den Schulen ist ihre Autorität total; eine Begrenzung ihrer Macht im Klassenzimmer ist bislang nicht vorgesehen. Dementsprechend erwarten auch die Eltern von ihren Kindern, dass sie „die Regeln befolgen“ und „ihrem Lehrer gehorchen“.
In Irakisch-Kurdistan haben Lehrer diesen sozialen Status, aber die Rechtslage entspricht dem mittlerweile nicht mehr völlig: Das Gesetz Nr. 8 von 2011 verbietet häusliche Gewalt und Gewalt gegen Kinder. Das hat einige gesellschaftliche Diskussionen ausgelöst. Allerdings gibt es derzeit kein Gesetz, das Gewalt gegen Kinder in Schulen verbietet. Die Ankunft vieler geflüchteter traumatisierter Kinder hat außerdem zu Diskussionen um die Frage geführt, wie man auf ihre besonderen Bedürfnisse eingehen sollte. Das Thema ist in der Öffentlichkeit angekommen: Selbst angesichts der tief verwurzelten Autorität von Lehrern und ihren oft sehr konservativen pädagogischen Überzeugungen können jetzt weitreichende Veränderungen erreicht werden. Schulen sind obendrein immer noch ein ausgezeichneter Ausgangspunkt für Veränderungen: Sie bringen viele entscheidende Akteure zusammen und stehen für ein Umfeld, das Bildung und Entwicklung ermöglicht. Außerdem haben unsere Teams auch Zugang zu Flüchtlingslagern, wo sie traumatisierten und vulnerablen Gruppen gezielte Hilfe und Aufklärung gegen Gewalt anbieten können.
Die Kampagne Nein zu Gewalt! ist auf Langfristigkeit angelegt. Sie braucht jedoch kontinuierliche finanzielle Unterstützung, um fortgesetzt werden zu können. Wir glauben, dass nachhaltige Veränderungen langfristiges Engagement erfordern, wissen aber auch, dass dies mit dem heutzutage vorherrschenden Modell der zeitlich sehr begrenzten Projektlaufzeiten oft schwer umsetzbar ist.
Langfristiges Engagement führt in diesem System notwendigerweise zu Finanzierungslücken, daher bitten wir Sie, uns mit Ihrer Spende zu unterstützen.