„Verratene Freiheit“

Die folgenden Zeilen stammen aus der Einleitung des von Alex Feuerherd und der Wadi-Mitarbeiter Oliver M. Piecha und Thomas v. der Osten-Sacken im Verbrecher Verlag herausgegeben Buchs „Verratene Freiheit„, das als Reaktion auf die Massenproteste im Iran 2010 erschien.

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Diese Zeilen lesen sich angesichts der jüngsten Protestwelle im Iran gerade wieder äußerst aktuell. Zu hoffen wäre, dass diesmal die Freiheit siegen möge

„Längst sind im Iran landesweit Mode und Kleidung zum Ausdruck einer ungeheuer nachhaltigen, jugendlichen Revolte geworden, einer Revolte, die sich überhaupt weniger in Formen einer spezifisch politischen Ideologie äußert, sondern vielmehr auf der oft brachialen Suche nach einer Individualität ist, die dem Körper zu seinem Recht verhilft. Heimlich ausgeübter promiskuitiver Sex heißt so viel wie Freiheit in der „Islamischen Republik Iran“, gerade für die Frauen. Nicht mehr und nicht weniger.

Denn was gerade im Westen gern als Ausdruck besonders liebevoll gepflegter kultureller Selbstunterdrückung verkauft wird, ist bloß ein Dystopia, wo speziell der Körper der Frau zum Schlachtfeld der politischen Ideologie geworden ist. Individuelle menschliche Köper, deren genormte Verhüllung mit unzähligen Vorschriften erzwungen werden muss – wer, der noch alle Sinne beieinander hat, möchte das verteidigen? Und warum auch? Doch auch wo schlechte Gedanken herrschen, erkämpft sich Freiheit ihren Raum. Dann werden eben enge Jeans, Männer ohne Bart oder ein immer weiter nach hinten geschobenes Kopftuch zum kämpferischen Symbol einer Dissidenz, die die Sehnsucht nach Freiheit deutlicher zum Ausdruck bringt als alle Politslogans zusammen.

tanziran

Iranerinnen verbrennen ihre Hijabs, Bildquelle: Twitter

Im Iran, wie in anderen Ländern des Nahen Ostens, ging und geht es also um Freiheit, den Wunsch nach einer ganz unmittelbaren Freiheit, die sich anarchisch äußert und kein Parteiprogramm vorzuweisen hat. Die Protagonisten dieser Freiheit wissen oftmals selbst nicht so genau, wie das, was sie wollen, genauer zu formulieren wäre – außer, dass die Gängelung, die Bevormundung und die Repression ein Ende haben müssen. Diese Menschen wollen einfach freier sein – und damit auch frei, in ihrer Freiheit eigene Erfahrungen und eigene Fehler zu machen. Gerade das macht diese Revolte so einzigartig und sympathisch. Sie braucht keinen Führer, kein Programm und keine Partei. Sie ist sich selbst genug.

Und der Westen, das Referenzobjekt im Guten wie im Schlechten dieser Freiheit? Eine einzige Verhärtung. Abweisendes Schulterzucken bestenfalls, manchmal noch ein spontanes, kurzes Aufwallen von Mitleid. Wo Empathie gefragt gewesen wäre, regierten Entschuldigungen und Rationalisierungen. Statt Begeisterung für diese Bewegung und Empörung über jene, die sie niederknüppeln, herrscht Schweigen, Besserwisserei oder gleich Eiseskälte. Dazwischen irrlichtern jene herum, die immer noch auf eine Renaissance der „Islamischen Revolution“ hoffen.

An den Bildern aus Teheran zerschellt die Lüge vom „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“. Statt „Tod für Russland“ zu skandieren, hätten die Demonstranten in Teheran und anderen iranischen Städten auch den alten Hamas-Slogan umkehren können: Ihr wollt den Tod, wir wollen das Leben!

Das gute Leben und die Freiheit. Die zwei uneingelösten Glücksversprechen der bürgerlichen Revolution sind damit wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Nicht etwa in Europa, sondern in den Straßen des Iran. Aber auch in Europa gehören sie auf die Tagesordnung. Freiheit gibt es nirgendwo umsonst. “

(Video: Tanz als Protest, Szenen aus dem Iran im Herbst 2022)