Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Unterstützer,

die Weihnachtsgeschichte fällt aus. Keiner mag sie mehr hören. Wer Weise aus dem Morgenland sucht, der findet sie vor dem Berliner Lageso, wer Schwangere sehen will, die keine brauchbare Herberge für die Niederkunft finden, braucht nur zur nächsten Turnhalle zu gehen. Überall zwischen Raqqa und Regensburg, zwischen Beirut und Babenhausen sind Menschen auf der Flucht, ihre Habe in Tüten und Rucksäcke verpackt. Überall werden auf der Flucht Kinder geboren, im Elend auf Bahnsteigen, in unbeheizten Zelten, im kalten Morast eines umzäunten Lagers in Ungarn, Mazedonien oder Serbien, oder im Schlauchboot – mit mal mehr mal weniger Chancen auf ein menschenwürdiges Leben, abhängig davon, wie zuverlässig der Schlepper, wie bestechlich der Grenzpolizist, wie ruhig die See in der Ägäis gerade ist. Es ist, wie mit jeder Geschichte – sie ist nur solange gut, wie es gelingt, genug (zeitlichen und räumlichen) Abstand zur Wirklichkeit zu wahren, um beispielhaft zu bleiben. Kommt ihr die Wirklichkeit zu nahe, verliert sie ihren Sinn. Als bloßes Abbild des Elends ist auch diese Geschichte nicht mehr als eine Zeitungsmeldung unter vielen – eine Feststellung. Kein Stern geht auf für das Flüchtlingskind in Berlin/Moabit.
Vor genau einem Jahr haben wir in unserem Weihnachtsrundbrief bereits das Elend der Flüchtlinge im Vorderen Orient beschrieben. Geändert hat sich mit der großen Flüchtlingskrise seitdem nur der Abstand, der zwischen uns und ihnen mithilfe »grenzsichernder Maßnahmen«, Radarüberwachung, vorverlagerter Flüchtlingsaufnahme und der »Bekämpfung der Schleuserkriminalität« notdürftig aufrechterhalten wurde. Schon vor 2015 starben Flüchtlinge im Vorderen Orient und auf dem Mittelmeer. Neu war, dass die Grenzsicherung Europas angesichts der schieren Zahl von Flüchtlingen zusammenbrach und Zehntausende die scheinbar unüberwindbare Grenze überschritten. Zum Sinnbild wurden dänische Polizisten, deren Aufgabe es war, hunderte Flüchtlinge von der Einreise nach Dänemark abzuhalten und die kapitulierten, weil sie die dazu erforderlichen Gewaltmittel gegen die ausgezehrten Männer, Frauen und Kinder nicht einsetzen wollten und konnten. Dass seitdem flieht, wer fliehen kann, liegt auch daran, dass lange vor der europäischen Grenzsicherung bereits alle anderen Systeme und Institutionen zusammenbrachen, die die Menschen vor Ort gehalten haben. (…)
Wie ein Treppenwitz der Geschichte muss daher erscheinen, dass innerhalb einer Region der starken Staaten ausgerechnet jene Minderheit, der die Staatlichkeit konsequent verwehrt blieb, sich bislang als am widerstandsfähigsten erwiesen hat. In Ermangelung formeller Staatlichkeit sind im kurdischen Nordirak zivile Strukturen entstanden, die der Bevölkerung konkrete Einfluss- und Gestaltungsmöglichkeiten bieten, für die es sich zu leben und – im Ernstfall – zu kämpfen lohnte. Sinnbild dieses kurdischen Erfolgs sind lokale Initiativen und Organisationen, wie der von WADI seit Jahren geförderte Verein »Nwe« in Halabja, der sich heute unter anderem um arabische und syrische Flüchtlinge in der Stadt kümmert. Oder die von WADI geförderte Frauenrechtsorganisation »WoLA«, die sich erfolgreich für den rechtlichen Schutz von Frauen und Mädchen vor männlicher Gewalt einsetzt.