Eine Tagesstätte für Jesidinnen will den geschundenen Frauen und Mädchen eine neue Perspektive geben
Von Birgit Svenson, Sonntagszeitung.ch, 06.12.2015
Dohuk Die ganze Nacht habe es Kämpfe gegeben, erzählt Linda, eine junge Frau im schwarzen Kostüm, die der Religionsgemeinschaft der Jesiden angehört. «Wir wussten sofort, dass es Daesh war», so wird im Irak die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) genannt. Wie ein Lauffeuer habe sich an jenem schwarzen 3. August 2014 bei den 40 000 Einwohnern ihrer nordirakischen Heimatstadt Sinjar die Warnung verbreitet, dass die gefürchteten IS-Jihadisten anrückten.
Lindas Vater lud die Familie mit dem Allernötigsten ins Auto und floh, Richtung Sinjargebirge. Auf halber Strecke ging das Benzin aus. «Die Jihadisten von Daesh schossen auf uns; sie waren ganz nah», erzählt Linda, noch immer schaudernd. Sieben Tage lang sass die 26-Jährige mit ihren Geschwistern in den Sinjarbergen fest. Die Eltern flohen zu Fuss über Syrien in den Irak, als kurdische Guerillakämpfer ihnen einen Korridor freikämpften. Ein Onkel konnte schliesslich die Kinder mit dem Auto holen.
Jetzt leben sie im Rohbau eines Hauses in Dohuk, neben einem Flüchtlingslager. 85 Verwandte hat Linda beim Drama um Sinjar verloren. Kurdische Truppen, welche die Stadt im Juli nach einjähriger IS-Herrschaft befreiten, haben bisher fünf Massengräber mit je 100 bis 200 Leichen getöteter Jesiden gefunden, darunter angeblich viele ältere Frauen, die dem IS nicht mehr als Sexsklavinnen taugten.
Besonders das Erlernen erster Friseurkenntnisse sei gefragt. Die Frauen wollen kleine Coiffeurläden im Camp aufmachen, wo sie untergebracht sind. Überhaupt wollten immer mehr Jesidinnen arbeiten, um sich und die Familie zu ernähren, obwohl das mit der konservativen Lebensweise ihrer Volksgruppe eigentlich nicht vereinbar ist. Aber die Grausamkeiten des IS haben die Jesiden von Grund auf verändert.
Die Daesh-Kämpfer in Sinjar seien aus Pakistan und Afghanistan gewesen, erzählen die Mädchen. Sie hätten verlangt, dass sie zum Islam konvertierten. «Wer sich weigerte, wurde verschleppt.» Danach wurde aussortiert. Nach Mosul kamen die, die für Jungfrauen gehalten wurden. Für eine Heirat mit ihnen bezahlten die Gotteskrieger einen hohen Preis. In ihrer Not hätten manche Mädchen gesagt, sie seien schon verheiratet und hätten Kinder. «Eine Ärztin hat dann Tests durchgeführt. Als herauskam, dass wir gelogen hatten, wurden wir geschlagen.»
842 Frauen und Mädchen konnten bisher aus der Gefangenschaft des IS entkommen, über 600 von ihnen hat die Organisation Wadi schon betreut. Doch mehr als 2000 werden immer noch irgendwo im «Kalifat» festgehalten, dem selbsternannten IS-Staat zwischen Syrien und dem Irak.