‚Flucht vor dem Islamischen Staat‘

Unter der Moderation von Hannah Wettig fand gestern Abend in Berlin eine Veranstaltung über “die Flucht vor dem Islamischen Staat” statt. Schwerpunktmäßig ging es um die Situation der Jezidinnen bei den IS-Terroristen und beim Entkommen, sowie die von Wadi ins Leben gerufene NGO Jinda, die sich um diese Mädchen und Frauen kümmert. Hierzu sind sogar zwei Mitarbeiterinnen aus Dahuk angereist, Sarah Hassan und Suzan Fahimi. Sie arbeiten in einer Stadt, in der es mehr Flüchtlinge als Einwohner gibt.

sara suzan

Gastbeitrag von Mercedes Nabert, Jungle World, 10.03.2017

Die Sozialarbeiterin Sarah Hassan ist selbst vor dem IS geflohen und hat bei Wadi Schutz gefunden, bevor sie dort zu arbeiten begann. Sie ist für die Erstbetreuung der Betroffenen zuständig und sieht somit deutlich, wie notwendig ihre Arbeit ist. Im Veranstaltungsraum in Kreuzberg beginnt sie ihre Ausführungen düster, bedankt sich für das Erscheinen und sagt, dass es sie wundert, wenn “im 21. Jahrhundert Menschen von so weit weg sich für ihr Schicksal interessierten“.

Der 73. Völkermord, von dem Hassan wie viele Jeziden glaubt, dass er der gerade stattfindende ist, ist zweifelsohne schlimmer als alles, was zuvor überhaupt denkbar gewesen wäre. Das Leiden und die Traumata der vom IS versklavten Frauen und Mädchen sind unerträglich. Man habe davon auszugehen, dass auch “in genau diesem Moment” ein Terrorist ein jezidisches Mädchen vergewaltigt. Es erfordere Mut, überhaupt zu fliehen, weil jede genau wisse, wie der IS mit Frauen verfährt, die daran scheitern. Die Frauen, die es schaffen, sind psychisch am Ende. Sie fühlen sich schmutzig, wertlos und ungewollt. Oft vermissen sie Schwestern oder Freundinnen, die vermutlich von anderen Islamisten versklavt sind. Die meisten männlichen Angehörigen wurden ermordet.

Suzan Fahimi, die für Hassan und das Publikum übersetzt und diese Aufgabe auch oft in Dohuk hat, war schon mit dabei, als das Jinda-Zentrum 2015 eröffnet wurde. Die Notwendigkeit einer solchen Einrichtung wurde, gegenüber WADI, mehr oder weniger von den betroffenen Mädchen und Frauen selbst angeregt. Als die mobilen Wadi-Teams in den Flüchtlingslagern im Nordirak unterwegs waren, hätten sie sehr bald bemerkt, dass die Geflohenen des IS eine ganz besondere Betreuung benötigten, die ihnen noch niemand geboten hat. Allerdings haben viele von ihnen in den Camps nicht darüber reden können und immer wieder gefragt, ob man nicht mit ihnen herausfahren könne. Seit es die entsprechenden Räumlichkeiten gibt, ist es endlich möglich, in intimerer Atmosphäre über die traumatischen Erlebnisse zu sprechen, mit den Mitarbeiterinnen und untereinander.

Fahimis Arbeit ist jedoch, wie auch die Hassans, ausgesprochen vielfältig. Sie bezeichnet sich darum schlicht als Freelancerin für Wadi und Jinda. Was den zu betreuenden Mädchen fehle, erklärt sie, sei “schon materiell, einfach alles, was man sich überhaupt vorstellen kann“. Außerdem werde im Rahmen von Kursen und gemeinsamen Unternehmungen der Versuch unternommen, kurze Ablenkungen und Glücksmomente zu verschaffen. Unter anderem gibt es ein Café, einen Garten und Computer. Der Ausschnitt eines Filmes wird gezeigt, in dem die stimmungsvollen Bilder zu sehen sind, die bei der Rückkehr einer Jezidin entstanden sind. Sie und ihr Sohn konnten nach einer gelungenen WADI-Spendenaktion aus den Fängen des IS freigekauft werden.

Natürlich werden einige Erfolge erzielt, doch die Arbeit wird dadurch nicht weniger. Bis heute hat Jinda schon mehrere hundert Mädchen betreut, von denen die meisten noch mit der Organisation in Kontakt stehen.

Ferner wurde die gesellschaftliche Entwicklung Irakisch-Kurdistans der letzten zwei Jahre besprochen. Sarah Hassan erklärt, dass auch die Besonderheit der Frauen innerhalb der jezidischen Gemeinschaft ursächlich für die Fassungslosigkeit ob der Gräueltaten des Islamischen Staates wäre. Doch Suzan Fahimi korrigiert dahingehend, dass die “Heiligkeit der Frauen” vor allem auch Ursache für die Schuldkomplexe sexuell missbrauchter Frauen sei; früher wurden vergewaltigte Frauen sogar noch verstoßen. Unbemerkt von der Welt hat die religiöse Minderheit eine Reform erlebt. Insgesamt haben die Umstände viele Männer in der Region zu gezwungen, ihre Ansichten über die Geschlechter radikal zu überdenken. Auch der aktuelle Baba Sheik, der so etwas wie der jezidische Papst ist, hat einiges dazu beigetragen. Erst vergangenen Monat haben die Mitarbeiter Wadis eine zeremonielle Ehrung durch ihn erfahren.

Dem Publikum gegenüber sitzen drei moderne, intelligente Frauen, die zu den wenigen gehören, die wirklich verstehen, was dies alles zu bedeuten hat und die dort humanitäre Hilfe leisten, wo beinahe jeder selbst darauf angewiesen wäre. Angesichts dessen ist das Publikum eigentlich viel zu klein. Obwohl die Referentinnen in der anschließenden Diskussion ihre Kompetenzen nicht überschreiten (Sarah: “Das ist eine politische Frage. Ich bin hier als Sprecherin für eine humanitäre Organisation“, was für einen Lacher sorgt), wird natürlich offenbar, dass Hilfe von Außen, in allen erdenklichen Angelegenheiten, weiterhin gefragt ist. Wie so oft ist nämlich die Frage vernehmbar, was man den tun könne und vor allem: wer. Einen Namen nennen die Frauen nicht, aber sie sind sich einig: Jede Regierung, die sich Menschenrechte auf die Fahnen schreibt, wäre prinzipiell in der Verantwortung. Wer ansonsten etwas geben oder tun möchte, wird wohl noch allzu lange die Gelegenheit dazu haben. Ein gelungener Abend.