Wadi Rundbrief Sommer 2019: „Der lange Krieg“

Liebe Unterstützerinnen und Unterstützer,

liebe Freunde von WADI,

viel ist geschrieben worden über den ›neuen Krieg‹, der nicht mehr zwischen Nationen und deren Armeen geführt werde, sondern ›asymmetrisch‹, also zwischen Hightech-Militärapparaten und ihren qua Technologiekonzernen vernetzten Märkten auf der einen, Terrorgruppen und disparaten Lokalfürsten auf der anderen. Mal wurde vom ›Krieg der Kulturen‹, mal vom ›vierten Weltkrieg‹ gesprochen. Seit dieser ›neue‹ Krieg nun aber ein paar Jahre alt ist, stellt sich vor allem Gewöhnung ein. Wenn heute in Syrien nach Homs, Aleppo und der Ghouta auch in Idlib Zivilisten bombardiert werden und erneut zehntausende Menschen in der Falle sitzen, weil auf der einen Seite die Armee Assads steht, auf der anderen eine mit europäischer Unterstützung hochgezogene Mauer, so ist dies zwar eine weitere traurige Meldung, aber kaum mehr einer Analyse wert. Was dort geschieht, ist tausendmal beschrieben – und doch hat keine Theorie es vermocht, zu verhindern, dass es immer und immer wieder geschieht.

Vielleicht ist eines der prägnantesten Merkmale dieses ›neuen‹ Krieges, dass er immer weiter geht und kein Ende zu finden scheint. Und, dass dieser Krieg nicht mehr im klassischen Sinne Gewinner und Verlierer kennt, sondern offenkundig nur Verlierer – auf der einen Seite diejenigen, die wirklich Hab und Gut, Gesundheit und womöglich ihr Leben verlieren, und auf der anderen jene, die nur noch versuchen, den Schaden einzudämmen, ohne ihn verhindern zu können, indem sie Mauern und Zäune hochziehen, um Flüchtende abzuhalten und den Kampfschauplatz einzuhegen.

Vor allem aber ist dieser neue Krieg ein langer Krieg. Davon zeugt Afghanistan, das mehr als fünfzehn Jahre nach dem Beginn des jüngsten Krieges mit der Intervention westlicher Truppen immer noch als das gefährlichste Land der Welt gilt, wo jeden Tag Menschen gewaltsam ums Leben kommen und große Landesteile unregierbar sind. Davon zeugt auch das Schicksal der Jesiden, deren Gebiete entlang der Ninive-Ebene im nördlichen Irak im August 2014 – also vor fünf Jahren – von den Kämpfern des sog. Islamischen Staates (IS) überrannt wurden. Nach neueren Zahlen der UN wurden damals zwischen 3.000 und 5.000 jesidische Zivilisten getötet, mehr als 6.000 Frauen und Kinder wurden verschleppt. Wer dem IS entkommen konnte, floh in vermeintlich sichere Gebiete und fristet seitdem ein Dasein in Notaufnahmelagern, in Bauruinen oder selbst gebastelten Notbehelfen. Fünf Jahre danach ist das Schicksal dieser Minderheit weiterhin so prekär, dass Suzn Fahmi, Projektkoordinatorin des von WADI unterstützten ›Jinda‹ Zentrums für jesidische Frauen und Mädchen, erklärt, die Strategie des IS sei aufgegangen. »Sie haben einen Genozid begangen und Erfolg gehabt. Das ist die bittere Realität.« (Das Interview finden Sie folgend.)

Tatsächlich wurde keine neue Heimstätte geschaffen, noch kehren die Überlebenden an ihre alte zurück, weil Singal und die darum liegenden Dörfer weiterhin zerstört sind und es an einem effektiven Schutz der Menschen fehlt, dem sie vertrauten. Wer könnte es ihnen verdenken, dass sie den Schutzversprechen keinen Glauben schenken? Die Geschichte der Jesiden wird nicht in Jahren gezählt, sondern in Verfolgungswellen. Der »74. Völkermord«, sagen die Jesiden, findet seit August 2014 statt.

Vielleicht ist eines der prägnantesten Merkmale dieses ›neuen‹ Krieges, dass er immer weiter geht und kein Ende zu finden scheint.

Als im Frühjahr 2019 die amerikanische Regierung den militärischen Sieg über den IS verkündete, hegten viele Zweifel an der Ernsthaftigkeit der Meldung. Nicht nur, dass der Sieg über die Islamistenmiliz im Norden Syriens u.a. mit Flächenbombardement und auf Kosten der dort eingekesselten Zivilisten erkämpft wurde; und nicht nur, dass der IS sich vielerorts scheinbar nur zurückgezogen hat. Für die Jesiden geht die späte militärische Niederlage der Islamisten vielfach einher mit dem Ende der Hoffnung, die Verschleppten jemals wiedersehen zu können. Nach wie vor ist das Schicksal von rund 3.000 Frauen und Kindern ungeklärt, die im Spätsommer 2014 vom IS verschleppt und versklavt wurden. Überall, wo der IS wütete, werden Massengräber entdeckt. Diejenigen, denen es gelang, die Sklaverei über alle Jahre zu überleben, waren gefangen zwischen Kriegsfronten. Immer noch kehren vereinzelte Frauen, aber auch Kinder zurück, die es nach Jahren bis in den sicheren Nordirak geschafft haben, um festzustellen, dass es Singal und ihr altes Zuhause nicht mehr gibt. Isis Elgibali berichtet in diesem Rundbrief davon.

Seit Ende 2014 leistet WADI Hilfe für die Jesid*innen im kurdischen Nordirak. Zusammen mit unseren irakischen Kolleg*innen wurde das ›Jinda‹-Zentrum in Dohuk aufgebaut; dem IS entkommene Frauen und Mädchen erhalten Rat und Hilfe von Teams in den Flüchtlingscamps. Dort arbeiten auch unsere Mitarbeiter*innen der ›No-to-violence‹-Kampagne und betreuen Kinder, die kein Zuhause kennengelernt haben, als das Flüchtlingscamp. Diese Hilfe ist heute so wichtig wie vor fünf Jahren.

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