Presserklärung 15.03.2016
Ein zum Jahrestag des Giftgasangriffs auf die irakisch-kurdische Stadt Halabja veröffentlichter Bericht dokumentiert 161 Giftgasangriffe in Syrien seit Beginn des Krieges vor fünf Jahren. Mehr als zwei Drittel der Angriffe erfolgte nach Verabschiedung der UN-Sicherheitsratsresolution 2118 v. September 2013.
Am 16. März 1988 bombardierte die irakische Armee die kurdische Stadt Halabja mit einem Cocktail aus unterschiedlichen chemischen Kampfstoffen. 5000 Menschen starben damals unmittelbar durch die Angriffe, zwischen 5000 und 10000 an den Spätfolgen.
Bis heute wirkt dieser Angriff nach. Nicht nur in Halabja und anderen irakisch-kurdischen Orten, in denen Menschen bis heute unter den Folgen dieser Angriffe leiden.
Passend zu diesem Jahrestag hat die renommierte Syrian American Medical Society (SAMS) eine umfangreiche Studie über den Einsatz chemischer Kampfstoffe durch den syrischen Staatsapparat vorgelegt. Der Bericht legt nahe, dass trotz Verabschiedung der UN-Sicherheitsratsresolution 2118 vom September 2013 und der darauf folgenden vermeintlichen Abrüstung des syrischen C-Waffenarsenals der Einsatz chemischer Kampfstoffe gegen die Zivilbevölkerung in den von der Opposition gehaltenen Gebieten fortgesetzt wurde. Der Bericht belegt 161 Fälle von C-Waffenangriffen durch syrische Regierungstruppen – mehr als Zweidrittel davon nach Verabschiedung der UN-Sicherheitsratsresolution.[1]
Damit dokumentiert der Bericht das vollständige Scheitern der internationalen Politik gegenüber Syrien – und eine erschreckende Ignoranz gegenüber dem Horror chemischer Kriegsführung in Nahost.
Nicht nur die Regierung hat inzwischen in Syrien systematisch Giftgas zum Einsatz gebracht, mehrfach belegt ist inzwischen auch, dass die islamistische Miliz Islamischer Staat über Chemiewaffen verfügt und diese auch verwendet.
Über Jahrzehnte haben die Diktaturen im Vorderen Orient sich um den Besitz chemischer Kampfstoffe bemüht. C-Waffen gelten als »Atombombe der Armen«, weil sie vergleichsweise leicht und günstig herstellbar sind, aber zugleich eine ultimative Drohung gegen die Zivilbevölkerung anderer Staaten darstellen. In der Praxis wurden C-Waffen allerdings auch gerne gegen die eigene Bevölkerung eingesetzt: In den 1980er Jahren im Irak, als das Regime Saddam Husseins in mehr als 60 nachgewiesenen Fällen kurdische Städte und Dörfer mit Chemiewaffen attackierte. Der größte und zugleich verheerendste Einsatz fand am 16. März 1988 in der irakisch-kurdischen Stadt Halabja statt.
Der Fall Irak zeigte zweierlei:
Zum einen hatte sich herausgestellt, dass die sog. »Atombombe der Armen« vor allem eine ideale Waffe zur Terrorisierung der Zivilbevölkerung ist. Chemische Kampfstoffe haben neben den entsetzlichen Folgen für die Betroffenen eine verheerende psychologische Wirkung. Sie sind leicht einsetzbar, lokal und zeitlich in Wirkung begrenzt, lassen die Infrastruktur unbeschadet und sind in Kriegsgebieten vergleichsweise schwer nachweisbar.
Zum anderen hatte sich gezeigt, dass der Einsatz von C-Waffen gegen die eigene Bevölkerung zwar international auf Ablehnung stößt, eine internationalrechtliche Ahndung und Bestrafung der Täter aber ausblieb. Im Gegenteil: Selbst als bereits längst glasklar war, dass in den staatlichen irakischen »Pestizidfabriken« Kampfstoffe produziert wurden, fand der Handel mit Rohstoffen und Infrastruktur zur Produktion von C-Waffen unbehindert weiter statt. Im Zweifelsfalle wurde bei sog. »Dual Use Gütern« kein unmittelbarer Hinweis auf ihre Verwendung zur C-Waffenproduktion gesehen.
Damit begründete das Bundeswirtschaftsministerium im September 2013 die Lieferung von 137 Tonnen chemischer Stoffe an Syrien zwischen 2002 an 2006, die für die Produktion von C-Waffen geeignet sind.
Straflos blieb bislang auch die syrische Regierung. Zwar erklärte US-Päsident Barak Obama 2013, der Einsatz chemischer Kampfstoffe sei die »rote Linie«, die das Regime Bashir al Asads nicht überschreiten dürfe. Als sie dies aber tat und in den östlichen Vororten von Damaskus nachweislich den Kampfstoff Sarin einsetzte, wurde lediglich die kontrollierte Abrüstung der C-Waffen vereinbart – im Einvernehmen mit der syrischen Regierung und auf der Grundlage ihrer Angaben. Fünf Jahre nach Beginn des syrischen »Bürgerkriegs« und 28 Jahre nach dem Angriff auf Halabja ist die Welt so weit wie eh und je von einer Bestrafung der Täter und ihrer Lieferanten entfernt. Für die Menschen in Syrien und im gesamten Vorderen Orient bedeutet dies nichts Gutes.
Bis heute hat sich die Bundesregierung nicht einmal für die Unterstützung der irakischen Chemiewaffenprogramme offiziell entschuldigt. Dies aber ist eine seit Jahren immer wieder von den Menschen in Halabja vorgebrachte Forderung.
Denn solange die Täter straflos bleiben und der Einsatz bzw. die Produktion chemischer Waffen nicht mit aller Härte geahndet werden, wird, so ist zu befürchten, Halabja sich immer wieder ereignen.
Die seit 25 Jahren im Nahen Osten deutsch-irakische Hilfsorganisation Wadi e. V. unterstützt seit langem verschiedene Projekte in Halabja und anderen Orten in Irakisch-Kurdistan, die mit Giftgas bombardiert wurden und arbeitet eng mit Initiativen aus dem syrischen Ghouta zusammen.
[1] Der vollständige Bericht kann hier eingesehen werden: https://www.sams-usa.net/foundation/images/A%20New%20Normal_Ongoing%20Chemical%20Weapons%20Attacks%20in%20Syria.compressed.pdf