WADI engagiert sich seit Jahren gegen die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung (FGM = Female Genital Mutilation). Dazu gehören Aufklärungs- und Lobbyarbeit auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene. Mitarbeiterinnen von WADIs Mobilen Teams hörten erstmals 2004 von FGM in den Dörfern der kurdischen Region Nordiraks. Damals glaubte man noch überall auf der Welt, die Praxis beschränke sich auf Afrika. Über Jahre sammelte Wadi Daten und erstellte Studien. Schließlich konnten die Mitarbeiter von WADI zusammen mit anderen Menschenrechts-Aktivistinnen das Parlement überzeugen, diese blutige „Tradition“ unter Strafe zu stellen. Im Nordirak besuchen WADIs Mobile Teams die Dörfer und klären über FGM auf. Auf internationaler Ebene drängt WADI darauf, den Kampf gegen FGM auf die betroffenen Länder in Asien auszudehnen. WADI erarbeitet derzeit eine Stop-FGM-Kampagne für den Nahen Osten.
Unter den Begriff „weibliche Genitalverstümmelung“ fallen verschiedene Verstümmelungsformen, die von der Entfernung der Klitoris und der mehr oder weniger weit reichenden Beschneidung der Schamlippen bis hin zur so genannten pharaonischen Beschneidung reichen können. Weibliche Genitalverstümmelung existiert neben zahlreichen afrikanischen Ländern auch in Teilen des Nahen Ostens (Jemen, Oman, Nordirak, Iran) und Ostasiens (vor allem Malaysia und Indonesien).
Infolge der Immigration aus diesen Regionen werden auch in Europa und Nordamerika immer mehr Mädchen Opfer dieser Praxis. Allein in Deutschland sind nach Schätzungen des Vereins „Taskforce FGM“ etwa 50.000 Mädchen unmittelbar von Genitalverstümmelung bedroht. Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation WHO leiden derzeit weltweit bis zu 140 Millionen Frauen und Mädchen unter den Folgen von FGM. Jedes Jahr werden etwa drei Millionen Mädchen an den Genitalien verstümmelt. In einigen Ländern Afrikas, darunter Ägypten, Äthiopien, Somalia und Sudan, sind über 90% der Frauen und Mädchen betroffen. Im Nordirak sind es, nach einer Studie von WADI aus dem Jahr 2010 etwa 72%. 2012 erstellte WADI eine weitere Studie für die irakische Region Kirkuk, die außerhalb der kurdischen Autonomieregion liegt. Sie ergab, dass dort 38% aller Frauen und Mädchen über 14 Jahren verstümmelt sind.
Im Irak finden die ritualisierten, doch ohne jede Ritualhandlung an 4 bis 8-jährigen Kindern vorgenommenen „Operationen“ oft unter unzureichenden hygienischen Bedingungen statt. Als Werkzeuge dienen Rasierklingen, Scheren, Küchenmessern oder auch nur Glasscherben. Immer wieder verbluten Mädchen an den Verletzungen.
Schmerzen und schwere gesundheitliche Beeinträchtigungen wie Inkontinenz, Unfruchtbarkeit und Komplikationen bei der Geburt sind für die überlebenden Opfer von FGM an der Tagesordnung. Die Orgasmusfähigkeit ist oft zerstört, der Geschlechtsverkehr bereitet Schmerzen und ist für die Frauen alles andere als ein Vergnügen. Oft besteht ein starker psychischer Leidensdruck, ausgelöst zum Einen durch die eingeschränkte Fähigkeit sexuellen Erlebens und daraus resultierender Schwierigkeiten in der Partnerschaft, zum Anderen durch das traumatische Erlebnis der Verstümmelung selbst. Traumatisierend wirken dabei neben der extremen Gewalterfahrung auch die intensiven Eindrücke des Gedemütigtseins, der Bloßstellung und Erniedrigung.
Viele Mädchen berichten, wie sie von der Mutter unter falschen Vorwänden zu der Beschneiderin gelockt wurden, wo sie dann gepackt und auf den Boden gepresst ihre „Beschneidung“ über sich ergehen lassen mussten. Die Mutter ist nicht nur Organisatorin, sie hilft meistens auch energisch mit. Viele Mädchen erleben diesen Überfall als enormen Verrat und Vertrauensbruch; das kindliche Urvertrauen ist tief erschüttert.
Die Diskussion
Das Schweigen wurde endlich gebrochen. WADI hat gemeinsam mit anderen Aktivisten und Menschenrechtsorganisationen in Irakisch-Kurdistan erreicht, dass in Presse, Funk und Fernsehen mittlerweile offen über das Problem Genitalverstümmelung gesprochen – und gestritten – wird. Das ist ein nicht zu unterschätzender Erfolg. Die Diskussion über FGM ist in der Öffentlichkeit angekommen, und das freie Pro und Contra bricht die alte Macht des Tabus.
Befürworter von FGM berufen sich auf Gebote von Tradition und Religion. Unter Vertretern des Islams gibt es unterschiedliche Positionen. Viele glauben, weibliche Genitalverstümmelung sei eine islamische Pflicht, die sich gerade nach schafi’itischer Rechtsauslegung eindeutig aus den Überlieferungen Muhammads ergebe, während andere die Authentizität dieser Quellen bezweifeln oder sie im historischen Kontext verstanden wissen wollen.
Parlamentsabgeordnete und Regierungsmitglieder neigten zunächst dazu, das Problem Genitalverstümmelung zu leugnen oder kleinzureden. Im Jahre 2010 veröffentlichte das Gesundheitsministerium schließlich eigene Untersuchungsergebnisse, denen zufolge die FGM-Rate 41% betrage. Im Sommer 2011 sollte die jahrelange Kampagnenarbeit der Aktivistinnen endlich Früchte tragen: Das Parlament verabschiedete ein neues Gesetz gegen häusliche Gewalt, das erstmals auch weibliche Genitalverstümmelung unter Strafe stellte. Empörte islamische Geistliche machten daraufhin gegen das Gesetz mobil. Obwohl der Präsident der Kurdischen Regionalregierung das Gesetz bislang nicht ratifiziert hat, wurde es Anfang September im Gesetzgebungsblatt veröffentlicht und ist damit offiziell in Kraft getreten. Seitdem hat WADI über 50.000 Leaflets zur Aufklärung über das Gesetz drucken lassen, die Beraterinnen in Schulen und Dörfern verteilen. Gemeinsam mit dem Filmemacher Nabaz Ahmed wurde der Dokumentarfilm „Eine Hand voll Asche“ und mehrere Fernsehspots über FGM gedreht, die inzwischen auf allen kurdischen Fernsehsendern regelmäßig laufen.
Doch während FGM nun in der kurdischen Autonomieregion verboten ist, bleibt sie im Zentralirak weiterhin erlaubt. Die Ergebnisse der Studie aus der Region Kirkuk wie auch Berichte irakischer Mediziner über den Südirak zeigen, dass auch dort FGM weit verbreitet ist. Derzeit arbeitet WADI deshalb gemeinsam mit der irakischen Frauenorganisation Pana an einer Kampagne für ein Gesetz im Zentralirak. Am 6. Februar 2013, dem Internationalen Tag zur Bekämpfung von Genitalverstümmelung überreichten Mitglieder von Pana in Bagdad dem irakischen Parlament einen Gesetzesentwurf, der FGM auch im Restirak unter Strafe stellen soll.
WADI engagiert sich aber auch über den Irak hinaus gegen die Verstümmelung von Frauen. Im Januar 2012 richteten WADI und Hivos die erste Konferenz zu weiblicher Genitalverstümmelung im Nahen Osten in der libanesischen Hauptstadt Beirut aus. Experten aus dem Irak, Jemen, Indonesien und Ägypten nahmen daran teil. Damit wurde der Grundstein gelegt, um ein regionales Netzwerk aus Experten und Aktivisten zu knüpfen, die gemeinsam darauf drängen, FGM in der Region zu bekämpfen. 2013 will WADI die Kampagne Stop-FGM-Middle East nach dem Modell der erfolgreichen Stop-FGM in Kurdistan-Kampagne anschieben.
„Bislang galt die weibliche Genitalverstümmelung als rein »afrikanisches Problem«. 2003 begann die Hilfsorganisation Wadi e.V., die sich seit über zehn Jahren für wirtschaftliche Entwicklung und Menschenrechte im Nahen Osten einsetzt, Frauen in den kurdischen Gebieten zu diesem Thema zu befragen.“ (Brigitte, Februar 2008)
Aufklärung in den Dörfern
Seit Jahren besuchen WADIs Mobile Aufklärungs- und Beratungsteams die Dörfer Irakisch-Kurdistans. Die speziell ausgebildeten Mitarbeiterinnen stammen selber aus der Region und kennen die lokalen Mentalitäten und Gepflogenheiten. Sie versammeln die Frauen und Mädchen im Dorf und diskutieren mit ihnen Fragen des Alltags, geben grundlegende Gesundheits- und Hygienetipps und sprechen nach einer Zeit der Vertrauensbildung auch das Thema Genitalverstümmelung an.
Die Überzeugungsarbeit funktioniert nicht immer, aber erstaunlich oft. Mittlerweile gibt es viele Dorfgemeinschaften, die sich von dem blutigen „Ritual“ losgesagt haben. WADI hat daher nun ein FGM-free Village Programm begonnen, bei dem aufgabewillige Dörfer im Gegenzug für ihr öffentliches Bekenntnis zu „Stop FGM“ mit kleinen Sozial- und Infrastrukturprojekten ihrer Wahl belohnt werden.
Überzeugt werden müssen aber nicht nur die Frauen im Dorf. Ein großes Interesse am Fortbestehen des Rituals haben die Hebammen, die die Operation ausführen. Sie haben bisher einen hohen Status in den Gemeinden genossen und nicht zuletzt auch an der Verstümmelung verdient. Zudem stellt die Verurteilung von FGM ihr Lebenswerk in Frage. Sie haben also guten Grund sich zu wehren. Eine erfolgreiche Anti-FGM-Arbeit muss ihr Anliegen ernst nehmen. Seit Februar 2013 bietet WADI Workshops für Hebammen an, in denen sie in ihrem Fach weiterqualifiziert werden. Sie werden auch über das neue Gesetz gegen häusliche Gewalt, das FGM unter Strafe stellt, unterrichtet. Wie auch die Dorfvorsteher unterzeichnen sie am Ende des Workshops eine Erklärung, dass sie fortan keine FGM mehr praktizieren wollen.
Einen weiteren Schlüssel zur Bekämpfung von FGM sieht WADI in der Kampagnen- und Öffentlichkeitsarbeit. FGM als objektiv unnötiges, rein gesellschaftlich produziertes Elend kann letztendlich nur von den Menschen selbst bekämpft und abgeschafft werden, daher ist ihr aktives Bekenntnis und ihr Mut zur innergesellschaftlichen Auseinandersetzung von so entscheidender Bedeutung. Die Stop-FGM-Kampagne hat sich bewährt – viele Frauen in Irakisch-Kurdistan identifizieren sich mit ihr und tragen zum Zeichen dafür die goldene Narzisse am Revers.
Im Juli 2012 richtete WADI, gefördert von CliffordChance, eine FGM-Hotline ein. Die Hotline-Beraterinnen geben psychologische, soziale, medizinische und sexuelle Auskunft. Die Mobilen Teams von WADI haben festgestellt, dass Opfer und potentielle Opfer von FGM dringend einer Möglichkeit bedürfen, anonym Informationen einholen zu können.
Seit Juni 2014 unterstützt UNICEF WADIs Initiative gegen Genitalverstümmelung. WADI bildet nun mit UNICEF-Hilfe Mitarbeiterinnen 6 lokaler Organisationen für die FGM-Aufklärungsarbeit aus, so dass face-to-face Aufklärung bald nahezu flächendeckend in der Kurdenregion stattfinden kann.