Rundbrief 07/2017: „25 Jahre solidarische Hilfe“

Liebe Unterstützerinnen und Unterstützer,

liebe Freunde von WADI,

25 jahrees scheint, als sei der Islamische Staat aller militärischen Niederlagen zum Trotz am Ende wenigstens in einem Sinne erfolgreich gewesen: Wann immer heute vom Vorderen Orient, von den arabischen Staaten oder von muslimischen Gesellschaften die Rede ist, dann nur mehr unter dem Vorzeichen des Kampfes gegen das Gespenst des IS, ganz so, als sei all das, was so viele Regierungen der Region auszeichnet, auf einmal nicht mehr relevant: Korruption, Armut, Rechtlosigkeit, die Unterdrückung von Frauen, die Verfolgung von Minderheiten, staatliche Zensur statt freier Presse und eine gegängelte Wissenschaft und Bildung. Als Verbündeten gegen den IS akzeptieren wir jeden, der ein Gewehr besitzt und nicht zu viel Federlesens macht, von kurdisch angeführten Milizen in Syrien über schiitische Todesschwadronen unter Kommando der iranischen Revolutionsgarden im Irak bis zur russischen Luftwaffe, die gestern Aleppo für Assad sturmreif bombte und heute als Teil der Koalition gegen den Islamischen Staat die Stadt Raqqah bombardiert, in der nach wie vor über 300.000 Menschen gefangen gehalten werden.

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Wann immer andererseits hierzulande jemand, der auch nur entfernt aus dem Nahen Osten stammt, das Wort ergreift, wird er nur mehr als »Muslim« gehört – egal, ob es ihm um Glaubensfragen geht oder nicht, egal ob er sich selbst für einen Glauben entschieden hat oder längst dagegen. Die Teilung der Welt in Gläubige und Ungläubige, in Dar al Islam und Dar al Harb, die allen Islamisten schon lange vor dem Islamischen Staat so wichtig war (weil sie mehr Komplexität nicht ertragen), findet ihre Entsprechung in der Teilung in gute und radikale Muslime hier, die das Naheliegende undenkbar macht: dass nämlich, wer hier offiziell als Muslim gilt, möglicherweise nicht nur terroristische Gewalt ablehnt, sondern auch ansonsten nicht viel mit Religion am Hut hat oder sie als Privatangelegenheit betrachtet (und sich daher bspw. auch gar nicht genötigt sieht, »als Muslim gegen Terror« auf die Straße zu gehen).

So, wie die Islamisten nur solche kennen, die dazu gehören, und solche, die es zu bekämpfen gilt, kennt man hierzulande scheinbar nur noch »Muslime«, womit – je nach politischer Couleur – »Migranten« gemeint sind, bzw. »Refugees«, »Zuwanderer« oder, wie der Rassist feixend sagt, »unsere ausländischen Mitbürger«. Tatsächlich ging es aber nie um die in Endlosschleife diskutierte Frage, ob »der Islam zu Deutschland gehört« oder nicht, sondern ob die hier lebenden Menschen, die offiziell dem islamischen Kulturkreis zugerechnet werden, zur Bundesrepublik gehören, also ob sie endlich volle Bürgerrechte erhalten und dann auch von ihren Nachbarn vielleicht als Bürger statt als »unsere ausländischen Mitbürger« wahrgenommen werden. Das waren dem statistischen Bundesamt zufolge 2015 immerhin etwa 4,7 Millionen Menschen, was wiederum nur ein Schätzwert ist, der auf Herkunft beruht, denn wie in anderen Religionen auch wird man in der Regel nicht freiwillig und erst dann zum Muslim, wenn man auch ansonsten wahlberechtigt ist, sondern qua Geburt in eine »muslimische« Familie.

Bitte beachten Sie auch unseren neuen Aufruf zum Erhalt der einzigen Unterkunft für weibliche Flüchtlinge in Athen: „Bitte helfen Sie uns, damit das House of Peace offen bleibt„:

house peace

Gegen die Teilung der Welt in „Gläubige“ und „Ungläubige“

Die Teilung der Welt in Gläubige und Ungläubige, in Muslime und andere, hat der islamische Staat freilich nicht erfunden – wie er übrigens auch ansonsten weniger originell als vielmehr nur auf verrückte Weise konsequent ist.

Die Logik, mit der die Djihadisten gegen vermeintliche Teufelsanbeter, Ungläubige, Homosexuelle, selbstbewusste Frauen und jede/n wütet, der oder die sich nicht ihrem Diktat unterwirft, ist den Menschen des Vorderen Orients nur zu gut bekannt. Der arabische Nationalismus, aus dessen Schoß das Regime der Familie Assad genauso kroch, wie einst dasjenige Saddam Husseins, anerkannte nur die arabische Nation und ihr Volk – und eliminierte auf der anderen Seite deren »Feinde«: Kurden, Kommunisten, Liberale, angebliche Zionisten und natürlich die »Agenten des Imperialismus«. Dies war – und ist – zugleich ein Kampf gegen die Komplexität und Vielgestaltigkeit moderner Gesellschaften, die den Einzelnen erlauben, sich von der sexuellen Orientierung über den Glauben bis zur politischen Überzeugung ihre eigene »Identität« zu wählen, und der Versuch, diese Freiheit wieder in eine Welt von Dazugehörigkeit und Feindschaft zu sperren.

Gegen diesen binären Wahnsinn gingen vor wenigen Jahren in der gesamten sog. »arabischen Welt« Millionen Menschen auf die Straße. Es war der Charme – und zugleich das Schicksal – des sog. »arabischen Frühlings, dass sich in ihm so viele unterschiedliche Interessen artikulierten. Es ist andererseits diese Vielgesichtigkeit, an der Bewegungen wie der IS letztlich scheitern müssen. Wie in der syrischen Stadt Raqqah, die in den Medien gerne als Hauptstadt des Kalifatsstaates bezeichnet wird, kann der Islamische Staat Herrschaft nur als Besatzungsmacht gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung ausüben.

Nicht mit Islamisten paktieren

Will man also den Islamischen Staat und seine Logik besiegen, darf man nicht nur nicht mit anderen Islamisten und Diktatoren paktieren, sondern muss Menschen in ihren jeweiligen Bedürfnissen ernstnehmen und fördern.

Irakische Frauen, die sich für ein modernes Familienrecht einsetzen und gegen häusliche (also: männliche) Gewalt organisieren, tun dies nicht zuerst als »Musliminnen«, sondern als Frauen. Als solche sollte man sie ernstnehmen und fördern, statt in ihnen »moderate Musliminnen« zu suchen. Flüchtlinge, die in ihrem Radioprogramm in Halabja über demokratische Rechte und Beteiligung sprechen, tun dies nicht als »Muslime«, sondern weil sie nach Möglichkeiten suchen, ihre Lebenssituation und die ihrer Nachbarn zu verbessern. Die Arbeit von WADI baut seit mehr als 25 Jahren genau darauf auf. Als wir Anfang der 90er Jahre die Projektarbeit in Irakisch-Kurdistan begannen, taten wir dies – im Unterschied zu vielen anderen – nicht, um »den Kurden« zu helfen, sondern um Menschen mit ihren verschiedenen Bedürfnissen in einer Notlage zu unterstützen. Und im Unterschied zu vielen anderen, sind wir geblieben, als die Kurden ihre autonome Region erhielten und blieben auch, als sich das Interesse der Öffentlichkeit und damit die Gelder internationaler Hilfswerke auf andere Weltregionen konzentrierten.

Arbeit wurde belohnt

Für diese Arbeit wurden wir immer wieder reich belohnt: Mit großartigen Projekten, wie dem unabhängigen Radiosender in Halabja, und mal kleinen, mal großen Erfolgen – über 10.000 Frauen, die in den sog. Literacy Classes einen Schulabschluss absolvieren konnten; Frauen und Mädchen, die vor gewalttätigen Männern in Sicherheit gebracht wurden und die Chance auf ein neues Leben erhielten; oder das Verbot weiblicher Genitalverstümmlung in Irakisch-Kurdistan nach jahrelanger Kampagnenarbeit. Einen zusammenfassenden Überblick darüber finden Sie in dem beiliegenden Faltblatt über WADI.

selbst

In diesem Jahr wurden wir dafür auch von Außen belohnt: Anfang Mai erhielt WADI auf einem Festakt im jüdischen Museum von Berlin den renommierten Roland Berger Preis für Menschenwürde verliehen. Die Ehrung begründete das Preisvergabekomitee, dem u.a. die ehemalige UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Louise Arbour, der ehemalige EU-Kommissionspräsident Romano Prodi und die beiden Friedensnobelpreisträger Shirin Ebadi und Muhammad Yunus angehören, so:

»WADI erhält den Roland Berger Preis für Menschenwürde 2017 für den langjährigen und erfolgreichen Einsatz für die Menschenrechte und die Selbstbestimmung irakischer Bürger.«  

Damit hat das Komitee in wenigen Worten zusammengefasst, worum es uns seit über 25 Jahren geht und was wir in vielen Rundbriefen wortreich zu umschreiben suchten: Das Ziel der Arbeit ist die Befähigung von Menschen als Bürger zur Selbstbestimmung. Dazu zählt manchmal auch, die grundlegenden Voraussetzungen zu garantieren. Nicht umsonst haben wir dieses Schreiben mit dem Islamischen Staat begonnen.

Unterstützung von ezidischen Frauen und Mädchen

Seit zwei Jahren widmet sich WADI auch und vor allem der Arbeit mit ezidischen Frauen und Mädchen, die zu Opfern des Islamischen Staates wurden. Auch hierzu informieren wir Sie in einer der beiliegenden Broschüren.

eziden-flyer

Zwei der jungen Frauen, denen Mobile Teams von WADI helfen konnten – Nadja Murat und Lamija Baschar -, wurden im vergangenen Jahr mit dem Sacharow-Preis des Europäischen Parlamentes ausgezeichnet.

Und wir arbeiten eben nicht nur im Nahen Osten, sondern versuchen, Ideen und Kozepte, die sich im Irak und Syrien als erfolgreich erwiesen haben, auch in Deutschland umzusetzen. Davon zeugt etwa das Projekt »Vom Flüchtling zum Bürger«. In Workshops erfahren Flüchtlinge einerseits, wie Demokratie auf lokaler Ebene funktioniert; andererseits wird Mitarbeiter*innen aus der Verwaltung, der Sozialarbeit und Ehrenamtlichen interkulturelle Kompetenz mit dem Schwerpunkt Naher Osten vermittelt.

flüchtling flyer

Aber auch im Irak konnten wir neue Projekte beginnen und altbewährte fortführen. So kooperieren wir jetzt eng mit der viersprachigen Medienplattform »Kirkuk Now«, die aus den sog. Disputed territories im Irak berichtet. In Halabja findet erneut ein »Sommer des Friedens statt«, ein demonstrativer Aufruf zum friedlichen Zusammenleben von »Neubürgern« und Alteingesessenen, mit vielen Gemeinschaftsaktivitäten, gemeinsamem Engagement für die Umwelt, kulturellem Austausch und Möglichkeiten der Begegnung.

Und in der Region Germian hat Wadi ein neue Kampagne begonnen: Gegen Gewalt an Kindern in Schulen und in der Familie. Über all diese Projekte informieren wir Sie fortlaufend auf unseren neuen Internetseiten www.wadi-online.de oder auf Englisch:  www.wadi-online.org.

Bitte unterstützen Sie diese Arbeit weiter – mit Ihrer Spende, mit Rat und Anregungen oder indem Sie Ihren Freunden und Kollegen von WADI berichten.

 

Herzlich

Ihr Thomas Uwer

(für den Vorstand von WADI)