„Wie unter einem Brennglas“, so konnte man oft hören, verstärke Corona ohnehin vorhandene Missstände und Ungleichheiten. Dies gilt ganz sicher auch für den kurdischen Nordirak und das Moria-Lager auf Lesbos – Orte, an denen Wadi Aufklärungs- und Präventionsprogramme (mit-) organisiert und betrieben hat.
Kurdistan
Bereits im ersten Lockdown im Februar ersannen unsere Mitarbeiter*innen in Kurdistan Mittel und Wege, die Öffentlichkeit zu erreichen, um sie über die Gefahren des Virus und erforderliche Hygiene- und Schutzmaßnahmen zu informieren, da sich die offiziellen Verlautbarungen weitgehend auf Allgemeinplätze beschränkten und staatlichen Informationen zudem vielfach misstraut wird.
Das gebrochene Verhältnis zum Staat hatte dazu beigetragen, dass angeordnete Maßnahmen kaum befolgt wurden und im Sommer dann auch der Druck der Straße so groß geworden war, dass die Regierung keinen zweiten Lockdown mehr wagte. Die Wut der Menschen ist nachvollziehbar: das Land befindet sich in einer tiefen Wirtschaftskrise. Auch vor der Pandemie schon wurden Staatsangestellte nur unregelmäßig entlohnt, und für die anderen Arbeitnehmer*innen gab es im Lockdown sebstverständlich keinerlei Entschädigungen für Verdienstausfälle. So wurden die Maßnahmen nicht mitgetragen und das Virus, so gut es ging, ignoriert. Wadi bemühte sich, ziemlich allein auf weiter Flur, den Menschen zu erklären, dass das Virus trotz allem real sei und dass es im Interesse aller und jedes Einzelnen liege, seine Ausbreitung nach Kräften einzudämmen.
In diesem Sinne – und in Erweiterung der seit Jahren laufenden No To Violence-Kampagne – begann Wadi im August 2020 mit der „4C“-Kampagne: Citizen for Citizen Corona Campaign. Der Name signalisiert: hier geht es nicht um das Verhältnis zum Staat, sondern um die Selbstorganisation als mündige Bürger*innen. Es ist ein Aufruf an die Menschen, als Mitglieder der Community Verantwortung zu übernehmen und die bekannten einfachen Verhaltensregeln wie Abstandhalten, Masketragen und Händewaschen zu beherzigen. Die Mitarbeiter*innen gingen zuerst an Orte, an denen viele Menschen zusammenkamen – Bazare, Geschäfte, Busbahnhöfe, Gesundheitsstationen und Flüchtlingslager. Dort hingen sie Plakate auf, verteilten Infobroschüren und Gesichtsmasken. Zu diesem Zeitpunkt nahmen die Menschen die Situation noch nicht ernst. Viele reagierten mit Verwunderung oder Spott. Manche vermuteten eine politische Intrige. Doch die Mitarbeiter*innen ließen sich nicht beirren und erklärten immer wieder geduldig ihr Anliegen.
Bald schon gaben sie erste Seminare für Frauen, vorbildlich im kleinen Kreis und mit viel Abstand. Es offenbarte sich ein enormes Informationsdefizit, teilweise verbunden mit Verschwörungserzählungen und Falschnachrichten. Neben Corona wurde auch über häusliche Gewalt, psychische Probleme und Depressionen gesprochen, die im Zusammenhang mit der Pandemie weiter angestiegen waren.
Die Krise verschlimmerte sich, bald kannte jeder jemanden, der/die betroffen war. Es hatte sich herumgesprochen, dass Wadi neben psychosozialer Unterstützung für Frauen auch verlässliche Corona-Informationen bietet. So wurden die Teams immer häufiger gebeten, an weiteren Orten Seminare zu geben. So bald die Schulen wieder öffnen, werden wir auch dort Info-Veranstaltungen anbieten.
Weiterhin gehen Mitarbeiter*innen auch an zentrale öffentliche Orte, die ein erhöhtes Infektionsrisiko bergen. Sie hängen Poster auf, bringen in den Kassenbereichen der Geschäfte und an Behördenschaltern Bodenaufkleber an und verteilen wiederverwendbare Stoffmasken, die in einem unserer Partnerprojekte in Halabja von binnenvertriebenen Frauen handgefertigt wurden. Über Handzettel, soziale Medien und lokales Community-Radio verbreiten sie immer wieder den dringenden Aufruf, sich und andere zu schützen – und machen dabei deutlich, dass sie eine Bürgerstimme sind. Denn nur so lässt sich überzeugend an individuelle Verantwortung appellieren.
Lesbos
Dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis die Pandemie auch das überfüllte Flüchtlingslager Moria und die umgebenden Zeltsiedlungen erreichen würde, war klar. Man befürchtete, dass es unter den durch die katastrophalen Lebensbedingungen in den Zelten ohnehin geschwächten Menschen viele Todesopfer geben könnte. Informationen oder Aufklärung über das Virus gab es nicht, weder von der Regierung noch von den zahlreichen NGOs.
Wadi unterstützt schon seit 2019 die lokale Hilfsorganisation Stand by me Lesvos (SBML), die u. a. provisorischen Schulunterricht für die Kinder im Camp organisierte. Gemeinsam mit Flüchtlingskomitees haben wir im Februar 2020 beschlossen, diese beiden Hauptprobleme anzugehen: 1) Mangel an verlässlichen Informationen und 2) Mangel an Hygiene-Infrastruktur wie Toiletten, Waschgelegenheiten und Duschen. Hinzu kam das immer drängendere Müllproblem, denn buchstäblich nichts funktionierte in diesem Lager ordentlich, trotz der mehr als 70 internationalen Hilfsorganisationen und zahllosen freiwilligen Helfer, die im Lager aktiv waren. Die Flüchtlinge forderten, in Entscheidungen und praktische Arbeiten mit eingebunden zu werden. Sie betonten, dass sie sich mit ein wenig Unterstützung sehr gut selbst helfen könnten.
Daher gründeten in der Folge einige engagierte Flüchtlinge die Moria Corona Awareness Teams (MCAT), eine von Wadi unterstützte Gruppe, die sich der Aufklärung und Prävention verschrieben hatte und auf Selbsthilfe setzte. Sie hängten mehrsprachige Plakate auf und riefen über Megaphon und über Facebook die Menschen auf, so gut es geht Abstand und Hygiene einzuhalten. Die erforderlichen Maßnahmen waren aber unter den gegebenen Bedingungen kaum einzuhalten. Daher errichteten die MCAT provisorische Handwaschstationen und verteilten Seife und Desinfektionsmittel.
Das gesamte Areal wurde mit einer enormen gemeinsamen Kraftanstrengung von Müll befreit, zentrale Müllplätze eingerichtet und der Abtransport zur Deponie organisiert. Von Diakonie und Kindernothilfe unterstützt, wurde ein Tauschsystem für Einweg-Wasserflaschen aufgebaut. Die Berge an Flaschen hatten vorher maßgeblich zum Müllproblem beigetragen. Nun galt: wer 10 leere Flaschen brachte, bekam eine gekühlte volle. Das System wurde extrem gut angenommen. Die Flaschen wurden dem Recycling zugeführt, das Camp blieb sauber und die Menschen erhielten zusätzliches Wasser – vor allem in den Sommermonaten war das dringend nötig.
Um dem Informationsdefizit entgegenzuwirken und die Verbreitung von Fake News einzudämmen, begann Wadi in Zusammenarbeit mit Ärzten und anderen Organisationen die Refugee Corona Information Ressource, eine Facebook-Infoseite auf Englisch, Arabisch, Persisch und Französisch zu betreiben. Hier konnten die Menschen gesicherte Informationen und praktische Tipps finden, um sich und andere bestmöglich zu schützen.
Dann überschlugen sich die Ereignisse. Anfang September gab es den ersten Corona-Fall im Camp. Eine Woche später brannte das gesamte Camp ab. Auch die Schule von SBML fiel den Flammen zum Opfer. Im Oktober bezogen die Menschen nach und nach das neue Kara Tepe Camp. Hier fehlte es wieder an praktisch allem, was man in einem einigermaßen organisierten Flüchtlingslager erwarten würde.
Das Recycling-Projekt und die Corona-Aufklärung wurden mit Hilfe von SBML und MCAT fortgeführt. Außerdem wurden immer wieder palettenweise Spenden verteilt: Kleiderspenden, Nahrungsspenden, Zelte, Schlafsäcke. Die Flüchtlingsteams arbeiteten unermüdlich und wurden dabei organisatorisch von SBML unterstützt.