Der Irak-Krieg kann in vielerlei Hinsicht als Fiasko bezeichnet werden. Er beendete aber mit dem Sturz Saddam Husseins eine der schlimmsten Diktaturen ihrer Zeit. Der Irak erlebte nach der Invasion auch Phasen der Stabilität und Demokratisierung.
Von Thomas von der Osten-Sacken, Jungle World, 23.03.2023

(Bild: Nachgestellte Folterszene im ehemaligen Geheimdienstgefängnis in Suleymaniah, Quelle: privat)
Vor 20 Jahren marschierten die ersten Truppen der von den USA und Großbritannien angeführten »Koalition der Willigen« in den Irak ein, um, wie es offiziell hieß, Saddam Husseins Massenvernichtungswaffen (englisch: WMD) unschädlich zu machen und das Netzwerk al-Qaidas zu schwächen. Besagte Waffen wurden nie gefunden und al-Qaida wurde durch die Intervention mittelfristig eher noch gestärkt. Das dritte Kriegsziel bestand darin, einen regime change im Irak herbeizuführen.
Mit Blick auf die ersten beiden Ziele und deren Begründungen fällt heutzutage das Urteil recht leicht: Auch wenn Saddam, wäre er an der Macht geblieben, wohl umgehend sein WMD-Programm wiederaufgenommen hätte, sofern es ihm möglich gewesen wäre, war der Krieg ein Fiasko. Bleibt das dritte Ziel, das zwar nicht ganz oben auf der Prioritätenliste der US-Außenpolitik stand, dafür aber zu einem damals ungewöhnlichen Bündnis zwischen US-amerikanischen Neokonservativen und einer Handvoll Linker wie Paul Berman oder Christopher Hitchens führte. Sie befürworteten den Sturz eines der übelsten und brutalsten aller zeitgenössischen Diktatoren und hofften auf eine Demokratisierung des Irak.
Wäre heute das Jahr 2005 und nicht 2023, also der zweite und nicht zwanzigste Jahrestag des Kriegsbeginns, so könnte man guten Gewissens sagen, die Transformation des Irak nach dem Sturz Saddams sei weitgehend nach Plan verlaufen. Auch wenn Korruption, Nepotismus und Armut fortbestanden und Nachbarländer, allen voran der Iran, zu viel Einfluss ausübten, so hatten sich Institutionen und Verfassung doch als erstaunlich resilient erwiesen.
Im heutigen Irak ist es längst keine Seltenheit mehr, dass auch junge Frauen im Café sitzen und Wasserpfeife rauchen.
Keine relevante Partei stellte mehr die demokratische Verfasstheit des Landes in Frage, Irakisch-Kurdistan wurde als föderale Region anerkannt und zumindest im Vergleich zu fast allen Nachbarländern existierte im Irak eine recht weitgehende Meinungs- und Pressefreiheit. Die Armee unterstand parlamentarischer Kontrolle und bedrohte keine anderen Staaten mehr, während gewählte Regierungen kamen und gingen.
»Republik der Angst«
Im heutigen Irak ist es längst keine Seltenheit mehr, dass auch junge Frauen im Café sitzen und Wasserpfeife rauchen. Das Leben unter der Diktatur Saddams kennen sie nur noch aus Erzählungen, 2003 waren sie noch Kinder.
(Bild: Stassenszene in Kurdistan, Quelle: Thomas v. der Osten-Sacken)
Für sie muss das, was für ihre Eltern und Großeltern bittere Realität war, unvorstellbar sein: der tägliche Terror irakischer Geheimdienste und die allgegenwärtige Angst, die Kanan Makiya 1989 dazu veranlasste, sein Standardwerk über den Ba’athismus »Republik der Angst« zu nennen. Zwar wissen sie sicher von den Hunderttausenden von Toten, die das Regime in Massengräbern verscharren ließ und die bisher nur teilweise exhumiert wurden. Auch werden sie von Giftgasangriffen auf kurdische Städte gehört haben, aber all das spielt für die neue Generation kaum noch eine Rolle. Kurzum, vieles scheint erreicht, was sich manche 2003 erhofften.
Es ließen sich jedoch auch ganze Bibliotheken mit Berichten darüber füllen, was nach 2003 alles schiefgelaufen ist: wie es zu dem bewaffneten Aufstand im sunnitischen Dreieck kommen konnte, wie sich fast ein Bürgerkrieg zwischen schiitischen Milizen und Sunniten entwickelte und später dann auch aus einer Vereinigung von alten Ba’athisten und al-Qaida der »Islamische Staat« (IS) entstand und seine unvorstellbaren Verbrechen im Namen Allahs begehen konnte.
Unter dem Eindruck der Geschehnisse seit 2003 lässt sich leicht der Jubel vergessen, der zunächst in großen Teilen des Irak herrschte, als die Truppen der Koalition immer weiter Richtung Bagdad marschierten und dabei auf wenig Widerstand stießen. Damals sagte ein Mitglied des Zentralkomitees der Irakischen Kommunistischen Partei (IKP) in Bagdad in einem Interview mit der Jungle World: »Wir alle waren glücklich, dass Saddam Hussein, den wir so lange bekämpft hatten, endlich gestürzt wurde und sich die Chance für einen Neuanfang bietet.« Die IKP hatte zuvor – anders als die meisten Parteien der Opposition – den Krieg abgelehnt. Nach Saddams Sturz hingen überall in Irakisch-Kurdistan die Konterfeis von George W. Bush und Tony Blair.

(Bild: Einmarsch von US-Truppen in Najaf 2003, Quelle: Wikimedia Commons)
Diese Freude hielt bekanntlich nicht lange an. Schon damals kritisierten Leute wie der Neokonservative Michael Rubin, ein ehemaliger Mitarbeiter des US-Außenministeriums, entscheidende Fehler, die die Koalition beging – jedoch ohne Gehör zu finden. US-amerikanische Neokonservative forderten von Anfang an den Einsatz von wesentlich mehr Bodentruppen. Als besonders verhängnisvoll erwies sich, dass die türkische Regierung ihre Zusage zurückzog, der US-amerikanischen Armee den Durchmarsch in den Nordirak zu gestatten. So blieben ausgerechnet jene sunnitisch bewohnten Regionen des Irak, in denen die Ba’ath-Partei sich eines größeren Rückhalts erfreute, etwa die Großstadt Mossul, de facto unbesetzt und entwickelten sich früh zu Rückzugsgebieten des sich formierenden sogenannten Widerstands. Es ist kein Zufall, dass Mossul später auch dem IS in die Hände fiel, galt die Stadt im Irak doch immer als Hochburg von Ba’athisten und Islamisten, deren ideologische Differenzen so groß nie waren.
»Greater Middle East«-Initiative
Sollte anfangs der Sturz Saddams eine Art Startschuss für jene »Greater Middle East«-Initiative werden, mit der in der ganzen Region ein Wandel hin zur Demokratie vorangetrieben werden sollte, beschränkten die USA sich bald auf eine Stabilisierung des Irak und suchten dafür die Kooperation mit den Nachbarländern. In diesen, allen voran Iran und Syrien auf der einen und Saudi-Arabien und der Türkei auf der anderen Seite, fürchteten die jeweiligen Regierungen allerdings, dass die Transformation im Irak glücken könnte, und sahen ihre eigene Herrschaft bedroht. Sie unternahmen in der Folgezeit alles, um Terror und Instabilität im Irak zu fördern. Inzwischen ist bekannt, dass ein Großteil der Anschläge auf Koalitionstruppen in den Jahren von 2003 bis 2011 auf vom Iran gelenkte Milizen und Terrorgruppen zurückgingen, die, vom syrischen Regime unterstützt, weitgehend ungehindert über die schwer kontrollierbaren Wüstengrenzen einreisen konnten.
Bestärkt sahen sich die Nachbarländer in ihrem Vorgehen auch durch die Uneinigkeit, die in Europa hinsichtlich der Invasion bestand. Deutschland und Frankreich hatten sich mit Russland zu einer »Achse des Friedens« gegen die »Koalition der Willigen« zusammengeschlossen, und ihre Opposition gegen den Krieg hielt auch nach dem Sturz Saddams an. Dass jene Massenvernichtungswaffen, die als einer der Kriegsgründe benannt worden waren, nie gefunden wurden, spielte ihnen in die Hände. Entsprechend lautstark konnte man den USA vorwerfen, wider besseres Wissen gehandelt und einen Kriegsgrund erfunden zu haben. Einigkeit herrschte im »alten Europa«, wie der damalige US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld die »Achse des Friedens« abfällig nannte, darüber, dass der Irak-Krieg ein kolossaler Fehler gewesen sei.
Die Regierung Obama lieferte den Irak der Kontrolle des Iran aus.
Und mehr noch: Auch in den USA, wo die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung den Krieg 2003 befürwortete, kippte bald die Stimmung angesichts der Bilder von getöteten Zivilisten und gefallenen US-Soldaten aus dem Irak. Unter anderem deshalb verloren die Republikaner die US-Wahlen im Jahr 2008. Mit Barack Obama trat ein Präsident an, der öffentlich erklärte, die Invasion im Irak sei – im Gegensatz zum Krieg in Afghanistan – ein Fehler gewesen, und der versprach, die US-Truppen so schnell wie möglich aus dem Irak abzuziehen. Im Jahr zuvor allerdings hatte General David Petraeus das Kommando über die Koalitionsstreitkräfte übernommen, der viel zu spät den Kurs einschlug, der von Anfang an hätten verfolgt werden müssen: Mit der sogenannten surge, einer neuen Strategie der Aufstandsbekämpfung, gelang es ihm mit Hilfe lokaler Verbündeter, al-Qaida in den sunnitischen Gebieten zu neutralisieren.
Terror von al-Qaida und dem IS
Als im Jahr 2011 in der arabischen Welt Massenproteste ausbrachen und von Marokko bis Syrien gefordert wurde, was im Irak zumindest nominell existierte, nämlich Demokratie, also ein Ende von Diktatur und Tyrannei, war das Land schon einmal da, wo es heute wieder ist: Es gab kaum noch Terroranschläge, die vom iranischen Regime unterstützten schiitischen Parteien hatten die Wahlen 2010 verloren und die Lage im Irak schien sich zu stabilisieren. Statt die Gunst der Stunde zu nutzen und die Stabilisierung des Irak voranzutreiben, unterstützte die Regierung Obama damals den mit dem Regime im Iran verbündeten Nouri al-Maliki von der Islamischen Dawa-Partei, der so trotz Wahlniederlage an die Regierung kam. Im Gegenzug für ihre Unterstützung erhielten die USA das Versprechen, dass ihre Truppen ohne Zwischenfälle abziehen könnten. Und in der Tat starb bei diesem Unterfangen 2011 kein einziger Soldat. Den Irak lieferte man so der Kontrolle des Iran aus. Es folgten Aufstände und Terror von al-Qaida und die US-Truppen kehrten 2014 zurück – als Teil einer Koalition zur Bekämpfung des »Islamischen Staats«.
Um das Jahr 2016 herum traf ich mich häufiger mit einem syrischen Freund. Er hatte 2003 in Damaskus noch aus tiefster Überzeugung gegen den Irak-Krieg demonstriert. Als Oppositioneller unter Assad musste er 2013 nach Irakisch-Kurdistan fliehen. Mit ein paar Jahren Abstand und angesichts der Verwüstungen in seinem Land hatte er seine Meinung geändert. Er meinte, trotz allem sei die Lage im Irak nach dem Sturz Saddam Husseins viel besser gewesen als später in Syrien, wo es bekanntermaßen zu keiner Intervention des Westens gekommen sei.