Die Flüchtlingskrise in Griechenland und der „War on Refugees“

Was der Ostlibyen kontrollierende Warlord Khalifa Haftar mit dem Durchlassen sudanesischer Flüchtlinge nach Europa erreichen möchte, und was das mit Russlands Präsident Wladimir Putin zu tun hat.

Von Thomas von der Osten-Sacken, Woxx.lu, 18.07.2025

(Bild: Boot mit Flüchtlingen vor der griechischen Küste, Bildquelle: Wikimedia)

Etwas über zweitausend Flüchtlinge sind in den letzten Tagen aus Libyen auf schrottreifen Kähnen in Kreta gelandet und einmal mehr scheint Geschichte sich zu wiederholen: Griechische Behörden sind komplett überfordert mit Unterbringung und Versorgung, sodass die Menschen bei sommerlicher Hitze notdürftig in einer Ausstellungshalle und einem Messegelände untergebracht werden mussten. Schon titelte eine Lokalzeitung, dies seien Verhältnisse, die an das Moria-Lager auf Lesbos erinnerten.

Angesichts der Situation befindet sich Griechenland quasi im Ausnahmezustand, alle Medien berichten über die Szenen, und Erinnerungen an die bis heute traumatischen Bilder aus den Jahren 2015 und 2016 werden wach, als Hunderttausende vor allem aus Syrien auf die griechischen Inseln in der Ost-Ägäis übersetzen. Umgehend erklärte Premierminister Kyriakos Mitsotakis die Aussetzung aller Asylanträge von Flüchtlingen aus Nordafrika und die Errichtung zwei geschlossener Camps auf Kreta, in denen künftig Flüchtlinge untergebracht werden sollen. Worum es sich dabei handelt, brachte die Bild-Zeitung auf den Punkt, die sie in einer Schlagzeile als »Kreta-Knast« bezeichnete.

Knotenpunkt Libyen

Was aber ist geschehen, dass Griechenland erneut den Flüchtlingsnotstand ausruft? Seit Anfang des Jahres kommen immer mehr Boote aus dem vom Warlord Khalifa Haftar kontrollierten Ostlibyen. Während die Europäische Union längst schon äußerst umstrittene Abkommen mit der international anerkannten Regierung in Tripolis im Westen des Landes abgeschlossen hat, gilt die Regierung von Khalifa Haftar, die sich massiver Unterstützung durch Ägypten, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und vor allem Russland erfreut, international als illegitim. Versuche einzelner Staaten wie etwa Frankreich, mit Haftar ins Geschäft zu kommen, stießen deshalb bislang auch innerhalb der EU auf Widerstand.

Haftar gilt unter anderem als enger Verbündeter der sudanesischen Schnellen Eingreiftruppen (RSF), die sich seit über zwei Jahren in einem blutigen Bürgerkrieg gegen die Armee befinden und denen unter anderem von den USA vorgeworfen wird, einen zweiten Genozid in Darfur zu begehen. (Den ersten unternahmen sie unter ihrem früheren Namen Dschandschawid-Milizen.)

Die RSF werden massiv von den VAE, aber auch von der russischen Regierung und den nun unter dem Namen Afrikakorps aktiven früheren Wagner-Einheiten unterstützt, wobei Russland inzwischen an der Seite der sudanesischen Regierung steht, die Moskau im Gegenzug Zugang zum wichtigen Hafen von Port Sudan zugesagt hat.

Und erneut, wie schon 2015, verfällt Europa in Panik, hebelt Griechenland per Dekret nationales und europäisches Asylrecht aus und bekommt dafür aus Deutschland auch noch Applaus.

Der Bürgerkrieg im Sudan hat längst Syrien als größte Flüchtlingskatastrophe des 21. Jahrhunderts abgelöst. Mindestens dreizehn Millionen Menschen sind entweder Binnenvertriebene oder haben in Nachbarländern Schutz gesucht. Die allerwenigsten von ihnen schaffen es überhaupt, aus dem Land zu kommen, und wenn, dann warten Flüchtlingslager etwa im Niger auf sie, in denen katastrophale Lebensbedingungen herrschen.

Noch viel weniger Menschen machen sich auf den beschwerlichen, teuren und vor allem gefährlichen Weg durch die libysche Wüste, um vielleicht die Sicherheit Europas zu erreichen. Sowohl der Ost- wie der Westteil Libyens sind seit Jahren dafür bekannt, dass Flüchtlinge aus dem subsaharischen Afrika systematisch misshandelt, sexuell missbraucht und oft auch getötet werden.

Zugleich stellen die Flüchtlinge sowohl für die Regierung in Tripolis als auch der im östlichen Benghasi eine bedeutende Einnahmequelle dar, verdienen doch Milizen und Schlepper Millionen mit den Überfahrten nach Italien oder Griechenland. Zugleich zahlt die EU, aber auch Italien im Alleingang, an die Regierenden in Tripolis hohe Summen, damit sie diese Flucht unterbinden. Bekannt ist auch, dass ehemalige Milizionäre, die sich nun Küstenwache nennen dürfen, sowohl an Flüchtlingen als auch von EU-Geldern profitieren.

Putins hybrider Krieg

Ähnliches wird auch aus Ostlibyen berichtet. So soll General Haftar sogar persönlich in dieses lukrative Geschäft involviert sein, wie nach der Katastrophe von Pylos vor zwei Jahren Recherchen des Magazins Der Spiegel ans Licht brachten.

Aber Haftar und seinen Milizen geht es nicht nur ums Geld: Als enger Verbündeter von Russlands Präsident Wladimir Putin dient Ostlibyen auch als Knotenpunkt dessen, was man als »War on Refugees« bezeichnen kann, der Teil der hybriden Kriegsführung des Kremls gegen Europa ist. Seit der großen Flüchtlingskrise von 2015 ist klar, dass Russland und seine Verbündeten Flüchtlinge »produzieren«, um so die EU zu destabilisieren. Zuletzt fand dies ganz offen statt, als der Präsident von Belarus, Alexander Lukaschenko, Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak einfliegen und an die polnische Grenze karren ließ.

Schon im vergangenen Winter warnte ausgerechnet die europäische Grenzschutzagentur Frontex, dass Russland Ähnliches mit Khalifa Haftar plane. Vor diesem Hintergrund sind die vielen Boote, die nun Kreta erreichen, wohl auch zu sehen. Sie kommen in einem Moment, in dem EU und NATO vergleichsweise einig die Ukraine unterstützen und Russland klar geworden ist, dass seine Versuche, die Europäer zu spalten, keine Früchte getragen haben. Denn in Moskau erinnert man sich gut, dass 2015 die maßgeblich durch russische Bombardements erzeugte syrische Flüchtlingskrise Europa in eine existenzielle Krise stürzte, die neben anderen Ursachen zum Beispiel zum Brexit führte.

Und erneut, wie schon 2015, verfällt Europa in Panik, hebelt Griechenland per Dekret nationales und europäisches Asylrecht aus und bekommt dafür aus Deutschland auch noch Applaus. So erklärte CSU-Innenexperte Stephan Mayer der Bild-Zeitung: »Die Entscheidung der griechischen Regierung, das Asylverfahren für Nordafrikaner auszusetzen, zeigt, wie groß der Handlungsdruck in Europa geworden ist. Der Schritt ist ein Hilferuf aus Athen. Und er bestätigt die grundsätzliche Haltung der Bundesregierung, dass wir die Migrationswende in Deutschland und Europa dringend und mit aller Konsequenz durchsetzen müssen.«

Europa spielt mit

Kein Wort dagegen fällt über die Lage im Hauptherkunftsland dieser Flüchtlinge, dem Sudan. Seit nunmehr zwei Jahren schauen europäische Regierungen untätig zu, wie das drittgrößte Land Afrikas in einem blutigen Bürgerkrieg versinkt. Derweil klagen UN-Agenturen und andere Hilfsorganisationen, dass ihnen die Gelder für Nothilfe zusammengestrichen werden. Nicht einmal ein Promille der sudanesischen Flüchtlinge versucht überhaupt, nach Europa zu kommen: Im Jahr 2024 stellten etwas mehr als 10.000 Sudanesen in Europa einen Asylantrag. Den meisten fehlt das Geld; und wenn es dann doch ein paar schaffen – auch, weil dies gerade für Warlords wie Haftar opportun ist –, erklärt Europa quasi den Notstand.

Arbeiten erst Streitkräfte aus einem EU-Land mit seinen Milizen zusammen, läuft dies auf eine De-facto-Anerkennung hinaus, an der wiederum auch Wladimir Putin großes Interesse hat.

Haftar weiß, dass er quasi alle Karten in der Hand hält. Erst kürzlich ließ er eine EU-Delegation, die zuvor in Tripolis war, abblitzen – dabei wollte die EU doch erstmalig mit ihm unter anderem auch über ein Fluchtabwehrprogramm sprechen. Mit solchen Gesten demonstrieren jene Diktatoren, Autokraten und Warlords, mit denen solche Abkommen inzwischen geschlossen werden, wer das Sagen hat. Im Zweifel dürfte Haftar den Preis in die Höhe treiben wollen, der in seinem Fall nicht nur aus Millionen Euros besteht, sondern auch in der Anerkennung seiner Regierung.

Das ist ihm schon teilweise gelungen, kündigte Mitsotakis doch an, »die griechischen Streitkräfte (stünden) bereit, mit den libyschen Behörden zusammenzuarbeiten, um die Abfahrt von Migrantenbooten zu verhindern«. Die »libyschen Behörden« sind in diesem Fall eben nicht die international anerkannte Regierung in Tripolis – die kein wenig besser ist, stellt sie doch nur eine von der Türkei und Katar unterstützte islamistische Autokratie dar –, sondern die Kräfte Haftars.

Arbeiten erst Streitkräfte aus einem EU-Land mit seinen Milizen zusammen, läuft dies auf eine De-facto-Anerkennung hinaus, an der wiederum auch Wladimir Putin großes Interesse hat, denn für die Nahost- und Afrikapolitik des Kremls hat Ostlibyen seit Dezember 2014 enorm an Bedeutung gewonnen. Seitdem das Assad-Regime, ein Quasi-Satellit Moskaus, gestürzt wurde, hat Russland seine Häfen und Flugplätze in Syrien verloren und musste nach neuen Gebieten Ausschau halten. Die einzige Regierung in Nordafrika, welche die Russen mit offenen Armen willkommen hieß, war jene von Haftar, der erst kürzlich wieder wie ein hoher Staatsgas in Moskau empfangen wurde:

»Haftar wurde vom stellvertretenden Verteidigungsminister Yunus-Bek Yevkurov, der Bengasi häufig besucht hat, um Haftar zu treffen, mit allen militärischen Ehren empfangen. (…) Seit dem Sturz des Regimes von Präsident Baschar al-Assad in Syrien im Dezember soll Russland militärische Güter in den Osten Libyens transportieren, was im Westen und in den Ländern der Region Besorgnis über eine russische Einmischung und deren Auswirkungen auf die regionale Sicherheit und Stabilität ausgelöst hat.

Moskau strebt eine dauerhafte Marinepräsenz im Mittelmeer an, ein lang gehegtes Ziel, das einen ganzjährigen Zugang zu Häfen und die Möglichkeit zum Einsatz von Marineeinheiten erfordert. Außerdem strebt es die Kontrolle oder den Einfluss über Transitrouten aus Libyen an, wodurch Russland Europa in Bezug auf wichtige Energie- und Infrastrukturrouten unter Druck setzen könnte. Russland betrachtet Libyen als Anker für eine weitere Verfestigung seiner Position in der Sahelzone, wo der Rückzug des Westens und schwache Regierungen Chancen eröffnen. Von Öl in Libyen über Gold im Sudan bis hin zu Uran in Niger würde die Kontrolle über die Ressourcen Nordafrikas Russlands umfassendere Machtziele fördern.«

Bewunderer Saddam Husseins

General Haftar, der als großer Bewunderer des ehemaligen irakischen Diktators Saddam Hussein seinen Sohn Saddam taufte, ist natürlich bestrebt, eines Tages ganz Libyen zu kontrollieren. Daraus hat er nie ein Hehl gemacht und schon mehrmals erfolglos versucht, Tripolis zu erobern. Jede Anerkennung aus Europa wird ihn, so seine Überzeugung, diesem Schritt ein wenig näherbringen.

Entsprechend misstrauisch verfolgen deshalb auch die offizielle libysche Regierung und ihre Schutzmacht, die Türkei, die aktuelle Entwicklung. Sollte es zu weiterer Kooperation Europas mit Haftar kommen, dürfte das zu weiteren innerlibyschen Spannungen – de facto zu einem eingefrorenen Bürgerkrieg – führen.

In diesem Krieg zwischen Groß- und Regionalmächten sind Flüchtlinge nur eine Waffe unter vielen. Sie sind allerdings nicht nur Waffe, sondern werden wie Feinde behandelt und zahlen den Preis nicht nur für den Machthunger regionaler Despoten und für eine völlig gescheiterte MENA-Politik Europas, sondern müssen nun auch in Europa, von dem sie sich Schutz und Sicherheit erhofften, unter äußerst inhumanen Bedingungen ihr Leben fristen.

Denn Griechenland verfolgt seit Jahren konsequent eine Politik der Abschreckung, indem es für möglichst katastrophale Bedingungen in seinen Flüchtlingslagern sorgt – die Bilder aus Moria sprachen für sich –, weil man in Athen der festen Überzeugung ist, dies schrecke andere vom Kommen ab. Irgendeinen empirischen Beweis für diese Annahme gibt es zwar nicht, das hält die Regierung aber nicht davon ab, an ihrer Politik festzuhalten. Und so werden Menschen, die mehrheitlich der sudanesischen Hölle entkommen sind, nun wohl bald wie Verbrecher in Einrichtungen landen, die man guten Gewissens als Gefangenenlager bezeichnen kann.