»Spey« – eine NGO für die von Giftgasangriffen betroffenen Gebiete

Hilfestellung bei der Schaffung ziviler Organisationen und bürgerschaftlicher Strukturen gehört ebenfalls zu den Anliegen von WADI. Im November 2009 trafen sich erstmals Repräsentanten der Ortschaften, die Ende der achtziger Jahre Ziel von Giftgasangriffen gewesen sind. Sie wollten eine Nichtregierungsorganisation gründen, um gemeinsam die Entwicklung der damals völlig zerstörten und entvölkerten Orte voran zu treiben und die Giftgasangriffe aufzuarbeiten. Doch die Regierung verschleppte die Registrierung. Am 29. Dezember 2012 nahmen die Aktivisten die Sache selbst in die Hand und erklärten sich eigenmächtig nach irakisch-kurdischem Recht zur NGO.

Es ist kalt geworden, in den Bergen hat es geschneit. Im Büro von WADI faucht ein leicht bedrohlich aussehender syrischer Gasofen. Der Raum füllt sich, Stühle werden im Kreis aufgestellt. Hier sitzen 12 Vertreter von Dörfern und Regionen, die mit Giftgas angegriffen worden sind. Die Stadt Halabja mit über 5000 Giftgastoten, die ein Luftangriff im Jahr 1988 hinterlassen hat, steht als Symbol für diesen Vernichtungsfeldzug der Armee Saddam Husseins.

Ein Gründungsmanifest wird diskutiert und verabschiedet. Einen Namen für die neue Organisation hat man noch nicht, später wird man sich für »Spey« – auf kurdisch »Weiß« – entscheiden. Der Name steht sowohl für den weißen Giftgasrauch als auch für die symbolische Bedeutung der Farbe in Kurdistan: Sie bedeutet Hoffnung. Das Arbeitsprogramm der neuen NGO umfasst die Forderung nach einer gründlichen Untersuchung der Auswirkungen des Giftgases auf die Menschen und ihre Umwelt. Ohne dass es bisher exakte Zahlen gäbe, scheint z.B. die Rate von Missbildungen bei Neugeborenen und die Leukämierate in den betroffenen Regionen höher als im Durchschnitt zu sein.

»Spey« möchte regionale Aktivitäten koordinieren, zur Entwicklung in den betroffenen Regionen beitragen und den Forderungen der Bewohner durch die Vernetzung mehr Nachdruck verleihen. Die Geschichte der Angriffe soll dokumentiert und von den Betroffenen selbst eine Kultur des Gedenkens mitentwickelt werden.

halabja-2016

Ruft man sich die verheerende Geschichte des Nahen Ostens im 20. Jahrhundert in Erinnerung, mit ihren zahllosen Massakern an politischen und ethnischen Bevölkerungsgruppen, dann wird die Notwendigkeit wie Brisanz eines solchen Ansatzes noch deutlicher; es geht hier auch darum, die Möglichkeit eines öffentlichen Erinnerns und Verarbeitens im Sinne der Opfer erstmals auszuloten und zu erkunden. Nicht zuletzt möchten die Gründer von Spey zeigen, dass sie sich als Teil des weltweiten friedlichen Engagements gegen die Verbreitung von Massenvernichtungswaffen verstehen.

„Die Giftgasangriffe waren ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit“

Der Koordinator des Gründungstreffens, Kak Omar, ein ehemaliger Theatermann, gibt ein unabhängiges Dokumentationsmagazin über die Anfal-Kampagne heraus, das einmal jährlich – hauptsächlich von Privatpersonen gesponsert – kostenlos erscheint. Er erinnert in einem Gespräch an die Verantwortung Deutschlands, aber auch anderer Länder wie Hollands oder Russlands, denn nur durch deren Waffenlieferungen und technologischen Exporte sei das Saddam-Regime zu seinem Vernichtungsfeldzug in die Lage versetzt worden. „Wir möchten diese Länder daran erinnern, wie sie mit dem Holocaust umgehen, und fordern, dass auch die Giftgasangriffe gegen die kurdisch-irakische Zivilbevölkerung als eine Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet werden. Ein Internationaler Gerichtshof müsste die Verurteilung der Täter übernehmen.“

Der Koordinator des Gründungstreffens, Kak Omar, ein ehemaliger Theatermann, gibt ein unabhängiges Dokumentationsmagazin über die Anfal-Kampagne heraus, das einmal jährlich – hauptsächlich von Privatpersonen gesponsert – kostenlos erscheint. Er erinnert in einem Gespräch an die Verantwortung Deutschlands, aber auch anderer Länder wie Hollands oder Russlands, denn nur durch deren Waffenlieferungen und technologischen Exporte sei das Saddam-Regime zu seinem Vernichtungsfeldzug in die Lage versetzt worden. „Wir möchten diese Länder daran erinnern, wie sie mit dem Holocaust umgehen, und fordern, dass auch die Giftgasangriffe gegen die kurdisch-irakische Zivilbevölkerung als eine Verbrechen gegen die Menschlichkeit gewertet werden. Ein Internationaler Gerichtshof müsste die Verurteilung der Täter übernehmen.“

Das Manifest von »Spey«

Wir, die Unterzeichnenden, als Bewohner der Regionen in Kurdistan, die von Giftgasangriffen betroffen waren, oder als Angehörige von Opfern dieser Angriffe, haben uns am 20. November im Büro von WADI in Suleymania versammelt, um eine NGO mit humanitärer Zielsetzung zu gründen.

Unser Ziel ist es einerseits die Entwicklung dieser betreffenden Regionen in Kurdistan voranzubringen und zu begleiten, gleichzeitig wollen wir uns dafür einsetzen,  dass die Giftgasangriffe als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkannt und gebrandmarkt werden. Es gilt zudem internationale wie lokale Aufmerksamkeit für die Geschehnisse in diesen Gebieten und ihre derzeitige Situation zu schaffen.

Wir wollen uns aktiv dafür engagieren, dass die Erinnerungen an die Giftgasangriffe, auch bisherige Untersuchungen, Presseberichte und Dokumente, gesammelt und bewahrt werden.

Zugleich muss eine Bestandsaufnahme und Analyse der humanitären Probleme der Bewohner dieser Regionen auf wissenschaftlicher Grundlage durchgeführt werden.

Es ist darauf hinzuweisen, dass die Angriffe, die hier mit Giftgas gegen die Bevölkerung 1987 und 1988 durchgeführt wurden, in enger Verbindung mit den Massenmorden und Vertreibungen der Anfal-Kampagne stehen. Die Anfal-Kampagne sowie die Giftgasangriffe waren ein Genozid.

Der Einsatz von Giftgas und anderen Massenvernichtungswaffen gegen die Zivilbevölkerung verstößt gegen internationale Prinzipien und ist in jedem Falle ein Verbrechen.

Heute müssen die Folgen dieser Giftangriffe auf die Umwelt und die immer noch leidenden Opfer in den verschiedenen Regionen untersucht und abgeklärt werden.

Ausdrücklich wollen wir allen Menschen und Organisationen, die sich bisher den betroffenen Regionen und den Familien der Opfer gewidmet haben, ob beim Wiederaufbau, mit humanitärer Hilfe, mit Untersuchungen oder Berichterstattung, für ihre Bemühungen danken.

Wir möchten die Zusammenarbeit mit allen aktiven Gruppen und Organisationen suchen, die wie wir etwas für die Regionen, in denen die Giftgasangriffe stattgefunden haben, tun wollen.

Unser Manifest hat nicht nur das Ziel, die Absicht unserer offiziellen Registrierung bekannt zu machen, wir wollen auch dokumentieren, dass unsere Aktivitäten öffentlich sein werden.

In Kurdistan hat ein Genozid stattgefunden, und als solcher sollte er auch erinnert werden. Zur Unterstützung unserer Arbeit und unserer Forderungen brauchen wir Unterstützung von Innen wie von Außen.

Wir wollen eine Botschaft des Friedens aussenden, und Teil der internationalen Bewegung werden, die sich gegen die Verbreitung und den Einsatz von Massenvernichtungswaffen wendet.

Auf die Frage nach den Zielen der neuen NGO sagt Kak Omar: „Die Grundidee war zunächst einmal Leute aus ganz verschiedenen Regionen zusammenzubringen. Manche wussten gar nicht, dass diese oder jene Region auch betroffen war. Und diese Gebiete sind bis heute vernachlässigt. Die Menschen von dort sollen ihre Anliegen national wie international vortragen können. Und sie sollen es selber machen. Das ist besonders wichtig.“

Kak Ahmed, ein Rechtsanwalt aus Halabja, der zum Zeitpunkt der Angriffe sieben Jahre alt war, ergänzt: „Was wir hier versuchen, ist ein erster Schritt für Aktivitäten dieser Art in Irakisch-Kurdistan. Andere können dann hoffentlich durch diese Tür gehen, die wir aufmachen wollen. Es wird schwierig, wir haben uns viel vorgenommen.“

Die erste große Hürde sollte die Bürokratie sein. Obwohl das Gesetz ausdrücklich die Gründung von Nichtregierungsorganisationen erlaubt, fehlen in der Regierungsverwaltung Strukturen, um diese auch zu registrieren. Die Aktivisten von Spey warteten drei Jahre. Dann erklärten sie sich eigenmächtig zur Nichtregierungsorganisation entsprechend des 2011 erlassenen Gesetzes für NGOs Nr. 1, Artikel 8. Die Erklärung fand im Rahmen der ersten Konferenz der Organisation am 29. Dezember 2012 in Halabja statt. Unter anderem wurden dort Oral-History-Verfahren zur Dokumentation der Giftgasangriffe vorgestellt.

Im vergangenen Jahr haben Radio Dange Nwe und Spey vor dem 25. Jahrestag der Giftgasangriffe eine erste Meinungsumfrage in Halabja durchgeführt. 2500 Bürger wurden zu ihren Erfahrungen mit Regierungsunterstützung, zum Umgang mit der Tragödie und ihren Vorstellungen, wie des Jahrestages gedacht werden sollt, befragt. Die Ergebnisse zeigen, dass die Bürgerinnen und Bürger der leeren Versprechungen müde sind. Sie wurden am 13. März der Öffentlichkeit und Regierungsvertretern vorgestellt. Am selben Tag besuchen Vertreter von Spey das deutsche Konsulat in Erbil, um einen Brief an Außenminister Guido Westerwelle zu übergeben. Darin fordern sie eine Entschuldigung Deutschlands und die Anerkennung deutscher Mitschuld an der Giftgasproduktion Saddam Husseins, die durch Lieferungen deutscher Firmen erst möglich wurde. (Oliver M. Piecha u.a.)

Die Geschichte aufarbeiten

International Business Times, 15.3.2013: 25 years after worst chemical-weapon massacre in history
Radio Dreyeckland, 14.3.2013: Deutschland und Halabja – 25 Jahre nach dem Giftgasangriff – Interview mit Thomas von der Osten-Sacken

Ekurd, 8.3.2013: Iraqi Kurds seek worldwide recognition of genocide by Saddam

Mesop, 3.3.2013: Halabja/ Anfal Dossier – Deutsche Beteiligung (BRD + DDR)

Oxford Research Group, 12.1.2013: The Halabja Project: Uncovering the Truth 25 Years Later

Ekurd, 6.12.2012: The Swedish parliament recognizes the Anfal Campaign as genozide on Kurds

BBC, 3.12.2012: Halabja chemical weapons: A chance to find the men who armed Saddam

Kleine Anfrage im Bundestag der Linken 25.2.2010: Entschädigung der Opfer des Giftgas-Massakers von Halabja 1988

Winfried Nachtwei, 13.3.2008: Rüstungsexporte und deutsche Verantwortung

Gesellschaft für bedrohte Völker, 15.3.2001: Völkermord an Kurden und Assyrern verurteilen, aber auch Produktion und Handel mit Waffen!

Die ZEIT, 5.2.1998: Made in Germany

Der Spiegel 13.4.1992: Wanzen, Flöhe, Perser, Israelis

Human Rights Watch, 11.3.1991: Whatever happened to the Iraqi Kurds?

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