Goptapa: Eine kurdisches Dorf, das 1988 Giftgas zum Opfer fiel, organisiert sich

Wie viele andere Dörfer auch, wurde Goptapa 1988 von Saddams Truppen erst mit Giftgas angegriffen und dann vollständig zerstört. Noch heute sind die Folgen überall zu spüren, aber die inzwischen zurück gekehrten Bewohnern setzen sich nicht nur mit der Vergangenheit auseinander, sie arbeiten auch an einer besseren Zukunft. Bei beidem steht ihnen Wadi zur Seite.

Eine Reportage von Richard Wilde, 15.04.2024

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Denkmal in Goptapa, Bild: Hemn Goptapy

Goptapa ist ein kleines Dorf zwischen Kirkuk und Erbil in der Autonomen Region Kurdistan im Irak. Hier, an dem Fluss der Zab, leben mittlerweile wieder über 400 Familien. Es gibt Schulen, eine Bücherei, mehrere Geschäfte und einen großen Friedhof, denn hier starben einst viele Menschen eines grausamen Todes. Inmitten dieses Friedhofs steht deshalb eine große Statue. Zu sehen ist ein schreiendes Gesicht, umringt von toten Körpern. „Der Schrei“, wird die Statue genannt, durchaus in Anlehnung an das berühmte Gemälde von Edvard Munch. Denn dieses Denkmal soll erinnern an die Schrecken, die Goptapa und anderen Dörfern in der Region in den später 1980er Jahren widerfahren ist.

Damals, gegen Ende des Iran-Irak-Kriegs kämpfte der Diktator Iraks, Saddam Hussein, nicht nur gegen den Iran, sondern auch gegen die kurdische Bevölkerung und Peshmerga, bewaffnete Befreiungskämpfer, im Norden des Iraks. Dabei wurde auch gezielt Giftgas eingesetzt, das eigentlich nach den Schrecken des 1. Weltkriegs einer internationalen Ächtung unterlag. Der größte dieser Angriffe mit den meisten Opfern fand in Halabja statt und die Bilder gingen damals um die Welt. So wurde Halabja auch zum Symbol für die Brutalität des Saddam-Regimes.

anfal campaign

Ein wenig in Vergessenheit geriet so, dass Dutzende weitere Giftgasangriffe in diesem Jahr im Rahmen der Anfal-Kampagne stattfanden, die die völlige Zerstörung der kurdischen Infrastruktur zum Ziel hatte. 

Diese sogenannte Anfal-Operation war in acht Phasen unterteilt und zog sich vom Februar bis in den Oktober. Jeder dieser Phasen zielte auf ein anderes Gebiet. In der vierten Phase wurde dann das Tal des Zab-Flusses ins Visier genommen. Der genaue Ablauf in den einzelnen Dörfern ist zwar verschieden, doch folgte er grob einem Schema: Erst ein Angriff aus der Luft – in einigen Fällen auch mit Giftgas -, dann kamen die Bodentruppen.

Frauen und Kinder wurden von den Männern getrennt und in Lager im Süd- und Zentralirak verschleppt. Viele der Männer kamen in Straflager oder wurden gleich vor Ort hingerichtet.

Bis heute fehlt von über einhunderttausend Menschen, die dieser Kampagne zum Opfer fielen, jede Spur. Die Überreste anderer konnten zwischenzeitlich aus den unzähligen Massengräbern geborgen werden, die nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahre 2003 überall im Land entdeckt wurden.

In Goptapa war es der 3. Mai 1988, als die Flieger der irakischen Luftwaffe angriffen. Das gab es zuvor auch schon, aber an diesem Tag warfen die Flugzeuge Giftgasbomben ab. Dies läutete den Beginn der vierten Phase der Anfal-Operation ein. Kurz danach starteten Bodentruppen eine Offensive von allen vier Seiten. In dem Dorf lebten einige Peshmerga, die einen besonders wichtigen Anteil am kurdischen Widerstand gegen das Saddam-Regime hatten, weswegen der Angriff wohl auch besonders hart ausfiel. Das zumindest meint Hawraz Rafiq, Überlebender und Sohn des Peshmerga-Befehlshabers der Region.

Die Überlebenden versuchten sich in eine Höhle unterhalb des Dorfes zu retten, doch waren sie bald umzingelt. In einem dreistündigen Feuergefecht leisteten die Menschen aus dem Dorf noch Widerstand, bis die irakische Armee das Dorf komplett einnahm. So erzählt es Hawraz, der damals 14 Jahre alt war. Die Frauen und Kinder wurden deportiert, während die Männer in spezielle Straflager in den Süden des Iraks gebracht wurden. Von den aller meisten weiss man bis heute nicht, was mit ihnen passierte, aber wenig spricht dafür, dass sie am Leben geblieben sind.

Rückkehr nach der Befreiung Kurdistans

Nach den kurdischen Massenaufständen im Frühjahr 1991 wurden große Teile des kurdischen Gebiets befreit. Nach und nach kamen die Leute wieder zurück in ihre Dörfer. So auch nach Goptapa. Hawraz erzählt von dem komplett zerstörten Dorf, das sie damals vorfanden. Nicht nur fast alle Häuser, sondern auch sämtliche Bäume und Felder waren zerstört. Die, die zurückkehrten, bauten das Dorf und die Häuser wieder so gut auf, wie es damals unter den schwierigen Bedingungen Anfang der 90er Jahre ging. Während sie die Trümmer beiseitigten, fanden sie immer mehr Überreste ihrer Verwandten und Bekannten. Um ihnen die letzte Ruhe zu gewähren, entstand der Friedhof mit dem schreienden Denkmal.

Neben Hawraz kam auch Hemn Goptapy zurück in sein Heimatdorf. Für ihn und andere war nicht nur das Gedenken an die schrecklichen Ereignisse wichtig, sondern auch, wie man gemeinsam für eine bessere Zukunft sorgen könne. Und das ist in Goptapa inzwischen so gut gelungen, dass der Ort von lokalen Medien als Vorbild gefeiert wird: Mit den über 400 Familien sind es inzwischen sogar mehr, als vor der Anfal-Operation dort lebten. Andere Dörfer in der Region leiden dagegen unter Landflucht und haben sich nie wieder von der Katastrophe erholen können.

Nach Goptapa ziehen jedoch immer mehr Leute, die in den Städten Zuflucht gefunden hatten, zurück. Gemeinsam mit den Leuten vor Ort wurden die Schulen aufgebaut und die Bücherei. Aber auch um Umweltschutz kümmert sich das Dorfkomitee aus Freiwilligen: Inzwischen sieht man überall Bäume und Grünareale in Goptapa. „Ein Zeichen des Widerstands“, sagt Hemn, „so zeigen wir, dass Saddam nicht über uns gesiegt hat.“

Er sammelt seit Jahren auch alte Fotos und Geschichten aus den umliegenden Gebieten. Oft stößt er bei einer Familie auf Fotos von Anderen. Er übergibt diese dann an die Betroffenen. Er ist davon überzeugt, dass das ein wichtiger Weg ist, um Vergangenheit zu verarbeiten. Mit den gesammelten Materialien will er sogar ein kleines Museum errichten, nicht nur für die lokale Bevölkerung, sondern auch für Besucher aus anderen Teilen des Iraks und dem Ausland. Laut eigenen Aussagen sammelte er bereits Fotos und Geschichten von über drei Viertel aller damals in der Region der vierten Phase der Anfal-Operation lebenden Menschen. Das Ziel ist es natürlich auch, in den anderen Gebieten Informationen zu sammeln. Aber eben nicht nur das, sondern auch die Kraft des Wiederaufbaus und des Neustarts aus Goptapa in die anderen Dörfer zu tragen.

Community organisiert sich

Seit vielen Jahren bereits unterstützt Wadi die Bemühungen in Goptapa, wo auch immer neue Aktivitäten entstehen. Erst jüngst bildete sich eine Gruppe von Rettungsschwimmern, denn gerade im Sommer ist Goptapa ein beliebtes Ausflugsziel, doch es ertrinken immer wieder Menschen im Fluss. Auch eine Frauengruppe hat sich gegründet, die sich nicht nur für Gleichberechtigung engagiert, sondern auch Projekte fördert, die auf mehr wirtschaftliche Unabhängigkeit von Frauen zielen.

gopradNicht zu vergessen die Fußballmannschaft, die, da Wadi Trikots und Bälle besorgt hat, unser Logo auf die Trikots drucken hat lassen. Und um all das auch regional bekannter zu machen, hat Goptapa sogar inzwischen seinen eigenen Fernseh- und Medienkanal auf Facebook und Twitter, auf dem Citizen-Journalists, die zuvor von unserer Partnerorganisation Kirkuk-Now ein Training erhielten, über Aktivitäten, Probleme der Region und einfach auch, was täglich so passiert, berichten.

Einige dieser Projekte werden inzwischen auch von Töpfen kurdischer Regionalpolitiker unterstützt, die dieser selbstorganisierte Ansatz beeindruckt hat, was ganz besonders wichtig ist, um langfristig unabhängig von internationaler Hilfe zu werden.

Ein Beispiel bürgergesellschaftlichen Engagements

Goptapa hat sich so zu einem Beispiel entwickelt, was der bürgergesellschaftliche Ansatz, den Wadi überall unterstützt, konkret bewirken kann. In Goptapa, einem der vielen zuvor vernachlässigten Orte in der kurdischen Provinz, haben die Bewohnerinnen und Bewohner nicht darauf gewartet, dass Hilfe irgendwann von außen kommt, sondern ihr Schicksal selbst in die Hand genommen.

Besonders dabei ist die enge Verzahnung zwischen Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit unter dem irakischen Regime und dem Wunsch, für sich und die nächsten Generationen eine bessere und selbstbestimmte Zukunft zu schaffen.

Dabei haben die Menschen in Goptapa auch eine wichtige Botschaft: Auch wenn sie, ihre Eltern und Großeltern unbeschreibliche Schrecken miterlebt haben und Unzählige zu Tode kamen, wollen sie nicht einfach nur als Opfer gesehen werden. Ganz im Gegenteil: Was ihnen früher geschah, soll nie wieder geschehen. Und wenn sie so viel Gewalt erleben mussten, wollen sie heute, dass in Schulen, Familien aber auch gegenüber der Natur keine Gewalt zum Einsatz kommt. Auch deshalb war Goptapa von Anfang an Teil unserer „No to Violence“-Kampagne und ist heute stolz, dass das, was früher fast jedem Mädchen widerfahren ist, zu werden, nun Geschichte ist.

Internationale Kooperation

Aber wie erinnern, welche Mittel und Wege dazu gibt es? Diese Frage stellen sie immer wieder, denn in der Region gibt es wenige gute Beispiele. Da stehen mehr oder weniger monströse Betondenkmäler in der Gegend herum, mit denen sich die Überlebenden kaum identifizieren können. Deshalb ist Wadi auch in Austausch mit denen, die mit Hemn ein anderes Museum schaffen wollen, eines, das den Menschen gehört und von ihnen gestaltet wird. Dafür sammelt er Ideen, und wenn alles gut geht, wird er auf Einladung der Rosa-Luxemburg-Stiftung und Wadi im Sommer nach Deutschland kommen, um dort etwa Bergen-Belsen besuchen zu können und in Austausch mit Expertinnen und Experten in Gedenkstätten zu treten.

Video: Ein Beispiel für Citizens Journalism, Bericht von Goptapa TV

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