Ein etwas anderer Antisemitismus-Workshop:

Wie Syrer die Verschwörungstheorien der Deutschen parieren können

„Kennst Du die mit den Pokemons? Angeblich bedeuten ihre Namen etwas in einer geheimen Sprache der Juden, zum Beispiel: Töte alle Araber.“

Die Gruppe junger Syrerinnen und Syrer, die sich zu einem Workshop über Verschwörungstheorien zusammen gefunden hat, ist voll im Thema drin. Aus ihrer Heimat können sie ein Dutzend erzählen. Heute sind das nur mehr Witze für sie: „Kannst Du Dir vorstellen, dass wir das geglaubt haben? Unglaublich, oder?“

Mehr Sorgen machen ihnen die Verschwörungstheorien, die sie von Deutschen hören. Damit haben sie ständig zu tun. Denn sie berichten als Augenzeugen im Rahmen des Programms „Talking about the Revolution“ auf Veranstaltungen vom Konflikt in Syrien. Einwände, die sie dabei aus dem Publikum hören, erinnern sie allzu oft an die Märchen, die der syrische Diktator Bashar Al Assad erzählt.

Mit dem Programm der Initiative „Adopt a Revolution“ sollen Aktivistinnen und Aktivisten, die nach Deutschland geflohen sind, befähigt werden, Deutschen den syrischen Konflikt zu erklären. Sie erhalten Schulungen in Rhetorik und Wissen darum, was das deutsche Publikum weiß und nicht weiß. Und eben auch: Warum viele Menschen in Deutschland den Konflikt in ein einfaches, völlig falsches Schema pressen wollen.

Im Projekt "Talking about the Revolution" kommen syrische Demokratieaktivisten zusammen.

Im Projekt „Talking about the Revolution“ kommen syrische Demokratieaktivisten zusammen.

Hitler, ein Nationalheld

Das Team von „Vom Flüchtling zum Bürger“ hat diesen Workshop ursprünglich als Möglichkeit zur Auseinandersetzung mit Antisemitismus entwickelt. Aufgrund unserer Kenntnis der Region wissen wir, dass der derzeit viel diskutierte nah-östliche Antisemitismus seine Basis auch in ganz regulär gelerntem Schulstoff hat.

Adolf Hitler gilt in syrischen Schulbüchern als deutscher Nationalheld. Die Behauptung einer jüdischen Weltverschwörung nutzt auch dort Diktatoren, um ihre Macht zu sichern und ihre Untertanen in Angst und Misstrauen gegeneinander zu halten. Jede Opposition wurde unterdrückt mit dem Hinweis, man müsse im Kampf gegen Israel zusammenstehen.

Wie die staatliche Propaganda in Syrien funktioniert, dämmert inzwischen den meisten Syrerinnen und Syrern. Die Teilnehmer unseres Workshops setzen sich damit schon seit Jahren auseinander.

Die TeinehmerInnen des Prjekts wissen aus eigener Erfahrung, wie gefährlich Verschwörungstheorien sind.

Die TeilnehmerInnen des Projekts wissen aus eigener Erfahrung, wie gefährlich Verschwörungstheorien sind.

Aber der Mechanismus von Verschwörungstheorien ist oft schwer zu begreifen. Wer einmal an das Muster gewöhnt ist, fällt leicht wieder darauf rein. Politische Überzeugungen mögen sich ändern, aber Schuld am Elend bleibt eine böse Macht. Dass dass bemerkenswert ist, diskutieren wir in dem Workshop: „Es wird gesagt, der Mossad habe Al Qaida und ISIS geschaffen und die Revolution gemacht, andere glauben, dass Bashar al Assad ein Mossad-Agent ist“, erzählt ein Teilnehmer. „Es gibt sogar Leute, die denken die Hisbollah werde vom Mossad gesteuert.“

Für das Argumentationstraining ist es wichtig, erst einmal selbst eine Verschwörungstheorie zu erkennen und von Theorien über Verschwörungen unterscheiden zu können. Ganz reale Verschwörungen gibt es schließlich zuhauf in der Region des Nahen Ostens, die berühmtesten sind wohl der Sturz des iranischen Premierministers Mohammed Mossadeq und das Attentat auf den libanesischen Premierminister Rafik Hariri. Eingehend diskutieren wir, ob das Assad-Regime die Al Nusra-Front selbst erschaffen hat. Das legen unter anderem die Recherchen des Spiegel-Reporters Christoph Reuter nahe. Wir stellen fest, es könnte zumindest sein. Nicht nur gibt es viele stichhaltige Indizien, auch Ziel und angenommenes Vorgehen des Regimes machen Sinn.

Die Webseite des Projekts

Verschwörungstheorien entlarven

Letzteres ist bei Verschwörungstheorien nicht der Fall. Die meisten kann man schnell entlarven, stellt man die Frage, ob das Ziel überhaupt durch das Handeln der angenommenen Strippenziehers erreicht werden kann. Wäre es sinnvoll gewesen für die Lufthansa die Geziproteste zu finanzieren, um den Bau eines dritten Flughafens in Istanbul zu verhindern? So hat es der türkische Präsident Recep Erdogan behauptet. Ein Betriebswirt in der Gruppe zählt ein Dutzend Gründe auf, warum die Lufthansa bestimmt keine Flughäfen verhindern will. Und wenn sie es wollte, wären Proteste an einem ganz anderen Ort wohl das denkbar schlechteste Mittel.

Wozu Verschwörungstheorien dienen, erarbeiten wir anhand eines Bildes. Die Akteure des Krieges werden auf Zettel geschrieben: Iran, Türkei, USA, Assad, ISIS, Hisbollah, Israel, Saudi Arabien, Kurden usw. Obwohl wir nur die auch in Deutschland bekannten nehmen, sind es so viele, dass jeder der 16 Teilnehmer einen Zettel bekommt. Jetzt sollen zwei „Regisseure“ die Kriegsparteien und Unterstützer aufstellen entsprechend ihrer Allianzen: Wer kämpft mit wem?

Die einfache Wahrheit: Akteure in Syrien stehen sich klar nach Freund und Feind sortiert gegenüber.

Sortieren

Erst bauen wir das Bild entsprechend der Verschwörungstheorie über die syrische Hilfsorganisation „Weißhelme“ auf: Die Theorie besagt, dass der britische Geheimdienst und die CIA mit Hilfe von Al Qaida die Hilfsorganisation aufgebaut hätten, im Rahmen der Operation „Regime Change“. Wahlweise soll Israel das ganze orchestriert haben.

Das Sortieren geht schnell: Iran – nach rechts, Türkei nach links, USA nach links, Hisbollah nach rechts, ISIS nach links. Hinterher stehen sich zwei Gruppen gegenüber. Nur die Teilnehmerin mit dem Kurden-Zettel steht erst dazwischen, dann wird sie zum Assad-Lager sortiert.

Dann sollen die beiden Regisseure die Akteure so aufstellen, wie der Konflikt aus ihrer Sicht wirklich ist. Es entsteht Chaos. Die Regisseure debattieren bei jedem Akteur und die Zettelträger streiten mit darüber, wo sie stehen müssten.

Die Lektion könnte anschaulicher nicht sein: Die Wirklichkeit ist kompliziert – zu kompliziert. Einer sagt: „Ich bräuchte drei Wochen, um einem Deutschen den Syrienkonflikt richtig zu erklären.“ Die Verschwörungstheorie hingegen begreift man auf den ersten Blick.

Kompliziert wird es, wenn man den Konflikt in all seinen Verstrickungen darstellen will:

Aber Verschwörungstheorien vereinfachen nicht nur die Welt, sie entlasten auch: Wenn böse Mächte am Werk sind, kann der einzelne nichts dagegen tun, er trägt keine Verantwortung – politisch aktiv werden, lohnt nicht oder beschränkt sich auf Protest gegen die Macht, die man als Strippenzieher sieht. Darum nutzen Diktatoren Verschwörungstheorien.

Als nächstes zerlegen wir Verschwörungstheorien in ihre Bestandteile: Einfaches Gut-Böse-Schema, übermächtiger Akteur, der allerdings sein Ziel trotz seiner Übermacht nicht erreicht. Wichtigstes Erkennungsmerkmal ist die Macht über Medien. Sie immunisiert die Verschwörungstheorie gegen Einwände: Wer Fakten gegen sie ins Feld führt, ist den Lügen der Verschwörer in ihrer Lügenpresse aufgesessen.

Juden gelten häufig als Strippenzieher

Einem Teilnehmer fällt auf, dass die Juden sehr häufig Strippenzieher sind. Darüber sollten wir reden, schlägt er vor. „Warum eignen sich die Juden so gut als Schuldige?“ Das ginge auf den historischen Antisemitismus in Europa zurück, ist sich die Gruppe einig. „Sie waren in Europa eine Minderheit, die keine Fürsprecher hatte“, vermutet eine Teilnehmerin. Aber wenn schutzlose Minderheit zu sein ausreicht, warum gibt es dann keine Verschwörungstheorien über Roma in Europa oder über die Jeziden im Nahen Osten? Jemand schlägt vor, dass der wirtschaftliche Erfolg der Juden ein Faktor war.

Eigentlich sollte dieser Workshop Antisemitismus nicht direkt behandeln. Zu heikel, befanden mein syrischer Co-Trainer und die Leiterin des Projekts bei Adopt a Revolution. Ich musste ihnen zustimmen: Das letzte Mal als wir das mit einer Gruppe Flüchtlinge probiert haben, skandierte ein kleines Grüppchen ihren Judenhass bis wir abbrachen.

Doch nun beschließe ich spontan die Mutter aller modernen antisemitischen Verschwörungsverschwörungstheorien zu analysieren. „Ihr kennt doch alle die Protokolle der Weisen von Zion, oder?“ In der Gruppe nicken viele, mein Co-Trainer übersetzt auf Arabisch, dann nicken alle. Die Protokolle sind Schulstoff in Syrien, unerwähnt bleibt in syrischen Schulen, dass es sich um eine Fälschung des zaristischen Geheimdienstes handelt.

Antisemitismus ist alltäglich: Cartoon in einer palästinensischen Zeitung

„Was kontrollieren die Juden laut den Protokollen?“ Die Teilnehmer zählen auf: Regierungen, weil sie Kontakte zu den Freimaurern haben, die Banken durch die Rothschilds, die Medien und die Wirtschaft. „Und was setzen sie ein, damit Chaos auf der Welt entsteht und sie die Macht übernehmen können?“ In der syrischen Version scheint etwas anderes zu stehen als in der europäischen: Den Staat Israel, glauben einige Teilnehmer. „Mmh, den gab es damals doch noch gar nicht. Da hat das Baath-Regime wohl ein bisschen was dazugeschrieben.“

„Die Juden stehen dahinter“

Ich zähle die bekanntesten Mittel der Zerstörung in der europäischen Version auf: Liberalismus, Demokratie und Kommunismus. „Alles drei gleichzeitig?“ fragt ein Teilnehmer erstaunt. „Ja. Toller Trick, oder? Die Juden stehen hinter allen politischen Richtungen, die dem Herrscher gefährlich werden könnten.“

Das Perfekte an dieser Verschwörungstheorie ist aber, dass sie gegen alle Einwände immun ist. Denn die Verschwörer kontrollieren nahezu alles. Und sie scheint plausibel, weil es ja tatsächlich die Rothschilds gibt und auch viele jüdische Namen in den Medien.

Fragt man aber nach dem Ziel und seiner Erreichbarkeit fällt sie in der gleichen Art in sich zusammen, wie die Theorien über Syrien: Warum wurde denn bei all dieser Macht das Ziel nicht einmal annähernd erreicht? Diese Frage zieht auch immer, wenn Deutsche glauben, die USA steckten hinter der Revolution in Syrien, weil sie einen Regime-Change wollten, berichten die Teilnehmer. „Warum haben sie dann keinen Regime-Change gemacht? Das können die Amerikaner doch sonst auch.“

Rätselhaft ist den ehemaligen Demokratieaktivisten, warum sich in Deutschland in fast allen politischen Parteien Vereinfacher des Konflikts finden, die die USA und Israel und in zweiter Front Saudi Arabien und Qatar als Lenker sehen. Gemeinsam überlegen wir, warum das so ist.

„Bei der NDP wird es schwieriger“

Am einfachsten ist das bei der AfD: „ Ich weiß nicht, ob die wirklich Assad glauben. Vielleicht sind sie nur pragmatisch. Die wollen einfach die Flüchtlinge wieder loswerden“, sagt eine. Bei der NPD wird es schon schwieriger. Von Alois Brunner, dem Mitarbeiter Adolf Eichmanns, haben einige gehört. Brunner floh vor der deutschen Justiz nach Damaskus und wurde dort Berater der Regierung – für Folter und zu „Judenfragen“. „Der hat uns ein schönes Geschenk gemacht: Den deutschen Stuhl“, ruft einer. Der deutsche Stuhl ist ein Folterinstrument, das auch heute noch in Syrien eingesetzt wird.

Aber wie sich die rassistische NS-Ideologie vereinbaren lässt mit der Zusammenarbeit und Unterstützung von orientalischen Diktatoren und Agitatoren damals wie heute, ist vielen nicht klar. Wir sprechen über die Ähnlichkeiten der Ideologien von Grauen Wölfe bis Antoun Sa’ade.

Warum es bei den Linken viele gibt, die beim Thema Syrien lieber die einfache Version glauben, dass die USA hinter dem Krieg stecken, leuchtet den meisten in der Gruppe ein. Solche antiimperialistischen Theorien kennen sie: „Das ist einfach genau das, was Assad sagt.“ Aber was treibt die Vielschreiber Jürgen Todenhöfer und Michael Lüders, wenn sie zwar differenzierter, aber dennoch ein ganz ähnliches Bild zeichnen? Ein Seufzen geht durch die Gruppe, als wir deren politischen Hintergrund erklären: Also auch SPD und CDU. Wer glaubt Assad denn nicht?

Am Ende ist klar: Verschwörungstheoretiker gibt es überall und in unsicheren komplizierten Zeiten vermehren sie sich. Aber zumindest haben die Workshopteilnehmer nun einen ganzen Strauß an guten Argumenten dagegen, ob sie nun andere Syrer treffen oder Deutsche. (Hannah Wettig)

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Der Workshop eignet sich für politisch interessierte Menschen aus dem Nahen Osten und Deutschland mit Grundkenntnissen der Konflikte der Region. Er ist Teil des Projekts „Vom Flüchtling zum Bürger und zur Bürgerin“ und kann über Wadi oder direkt bei hannahwettig at yahoo.de gebucht werden.

Aktuell können sich Syrerinnen und Syrer auch wieder beim Projekt „Talking about the Revolution“ der Initiative „Adopt a Revolution“ bewerben.