Dokumentation der Veranstaltung „Völkermord – Vertreibung – Abschiebung? Über das Schicksal der Jesid:innen im Irak und in Deutschland“

Dokumentation der Veranstaltung „Völkermord – Vertreibung – Abschiebung? Über das Schicksal der Jesid:innen im Irak und in Deutschland“ am 19. März 2024 im Stephansstift, Hannover mit Basma Haji Khider und Oliver M. Piecha.

Von Stefan Klingbeil, Flüchtlingsrat Niedersachen, 21.03.2024

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IDP-Camp Khabatoo für Jesiden im Nordirak, Bild: Thomas v. der Osten-Sacken

Vor einem sehr interessierten und engagierten Publikum eröffneten wir am Dienstag, den 19.März 2024 mit der Veranstaltung „Völkermord – Vertreibung – Abschiebung? Über das Schicksal der Jesid:innen im Irak und in Deutschland“ unser Begleitprogramm zur Ausstellung „Farben der Hoffnung“ mit Bildern von Ravo Ossman. Gewinnen konnten wir dazu die Menschenrechtsaktivistin Basma Haji Khider, die im Shingal in den dortigen jesidischen Flüchtlingscamps engagiert ist, sowie den Historiker, Publizist und Mitbegründer der seit 30 Jahren im Nahen Osten aktiven deutsch-irakischen Hilfsorganisation WADI e.V. Oliver M. Piecha. Moderierte wurde der Abend von Holger Geisler, ehem. Vorstand des Zentralrats der Jesid:innen.

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Das zwischen Zentralregierung und Kurdischer Regionalregierung „umkämpfte Gebiet“(In orange)

In seinem Eingangsreferat skizzierte Oliver M. Piecha den „umkämpften Raum“ der „Konfliktzone Shinjar“, der nicht nur durch seine Lage im Grenzland Türkei : Syrien : Irak : Iran von besonderer strategischer Bedeutung ist, sondern auch innerhalb des Iraks zwischen der Zentralregierung in Bagdad sowie der kurdischen Regionalverwaltung in Erbil umstritten ist. Eine Region, die – darauf wurde insbesondere in der anschließenden Diskussion verwiesen – seit der kolonialen Neuaufteilung des arabischen Raums Anfang des 20. Jahrhundert unterschiedlichsten Machtansprüchen und gewaltvollen bis kriegerischen Bevölkerungspolitiken unterworfen ist. Der Genozid an den Jesid:innen durch den IS 2014 stellt hier nur einen traurigen Höhepunkt dar. Einen Höhepunkt, wie Piecha betonte, der in seinen Konsequenzen nicht wieder rückgängig machbare Effekte der Vertreibung und Entwurzelung nach sich zog. Einen Höhepunkt zudem in einer langen Tradition an Rassismus in den blutigen Auseinandersetzungen um Hegemonie im Siedlungsgebiet der Jesid:innen. In diesem Sinne ist auch die seitens der BAMF behauptete Rückkehralternative für Jesid:innen eine Farce. Der Rassismus gegenüber dieser Volksgruppe ist außerhalb des Shingal allgegenwärtig, der Shingal selbst bar jeder funktionierenden Infrastruktur und ausgesetzt der laufenden Bedrohung von mind. 10 unabhängig voneinander agierenden Milizen sowie den alltäglichen Bombardements seitens der türkischen Luftwaffe. In diesem Sinne schloss Piecha mit einem dringenden Appell gegenüber dem Innenministerium, die Abschiebeandrohung gegen Jesid:innen hier sofort abzustellen und sichere Aufenthaltstitel aus zu sprechen. Was, so Picha, ist die Anerkennung des Völkermords wert, wenn sie doch nur durch die Angst ersetzt wird, jederzeit in das Land der Täter abgeschoben werden zu können.

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Basma Haji Khider, Bild: Oliver. M. Piecha

Basma Haji Khider ihrerseits knüpfte bruchlos an die Schilderungen Piechas an und unterstrich dessen Analyse des anhaltenden Rassismus’. Diese, so Khider, stehen zwar in einer jahrhundertealten Tradition, hätten an Intensität in Zeiten von social-media aber noch zugenommen. Hate speach und Gewaltandrohungen seien ständige Begleiter der jesidischen Minderheit im Nordirak. Eindrucksvoll malte sie die allgegenwärtige Erfahrung anhaltenden Terrors seitens unberechenbarer Milizen, aber auch willkürlicher staatlicher Polizei- und Militärkräfte aus. Und sie schilderte die Aussichtslosigkeit des Alltags der bis heute in Flüchtlingscamps lebenden Verbliebenen, einem Alltag, der von Pespektivlosigkeit, Mangelernährung, unzureichendem Zugang zu Bildung und jedweder Teilhabe gekennzeichnet ist. Doch selbst jene, die den Sprung raus aus den Camps wagen, und versuchen, sich in der Herkunftsregion wieder anzusiedeln, kehren ob der Unmöglichkeit der Reintegration oftmals zurück. Diese Erfahrungen sind um so schmerzlicher, als dass zum 30.07.2024 hin die Schließung aller Flüchtlingscamps geplant ist, ein Datum, das wie ein Horrorszenario vor den Augen der jesidischen Campbewohner:innen steht und zu dem auch im Publikum die bange Frage im Raum stand: „Was kommt danach?“. Auch Khider schloss mit dem dringenden Appell an die Politik, den hier Schutz suchenden Jesid:innen ein uneingeschränktes Bleiberecht zu gewähren und von Abschiebeandrohungen abzusehen. Deutschland,so Khider, sei längst deren Heimat geworden, eine Rückkehr nicht denkbar. Und von Seiten der Zivilgesellschaft wünschte sie sich eine stärkere Unterstützung der jesidischen Zivilgesellschaft vor Ort, warnt aber vor Spenden an staatliche Stellen, denn diese Mittel würden in dubiosen Kanälen versickern.

Die anschließende, sehr lebhafte Diskussion kreiste um die Widersprüche, was die Anerkennung des Völkermords für Konsequenzen zeitigt, wenn doch das Deutsch : Türkische Verhältnis z.B. keinen Widerspruch gegen die anhaltenden Bombardements, ja noch nicht einmal gegen die Waffenlieferungen in die Türkei zulässt. Dem blutigen Kampf um die lokale Hegemonie, der auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen wird, könne man nur mit einer entschlossenen eigenen Organisierung entgegentreten. Diese Prozesse der Selbstverwaltung gälte es zu stärken. Themen, die uns sicherlich durch das weitere Begleitprogramm begleiten werden.

Piecha hat für Pro Asyl ein Gutachten über die aktuelle Lebenssituation der Jesid:innen im Nordirak vorgelegt, dass demnächst bei Pro Asyl abrufbar sein wird.

Diese Veranstaltung fand in Kooperation mit der Rosa Luxemburg Stiftung Niedersachsen und  WADI e.V. statt und wurde finanziell unterstützt von Pro Asyl, dem Kulturbüro Hannover und dem Bezirksrat Mitte Hannover.