In einem von Wadi geförderten Projekt erkundeten Dörfer, die einst mit Giftgas attackiert wurden, ihre eigene Geschichte. Sie förderten eine Welt zutage, die das irakische Regime einst zerstörte und bewahren wichtiges Wissen. Jetzt soll ein „Online-Museum“ an das Leben vor dem Angriff erinnern.
Das Foto zeigt Amer Ali Ahmad, geboren 1959 in dem Dorf Göptepe. Wie so viele Leute seiner Gegend suchte er den örtlichen Fotografen in dem nahegelegenen Städtchen Arjalah auf, wann immer ein Passbild, eine Hochzeitskarte oder eine förmliche Bekanntmachung anstanden. Amer ist nicht viel älter geworden, als er auf diesem Foto war. Im Alter von 29 Jahren wurde er auf der Flucht von irakischen Armee-Einheiten verhaftet und erschossen – zusammen mit seiner zwei Jahre jüngeren Frau Tamen Jawhar und seinen vier Kindern Hawar (14), Ako (13), Nahro (11) und Sardar (9).
Dass über Amer heute mehr existiert, als eine Nummer und die nackten Zahlen über Geburt und Tod, ist dem Archiv des Fotografen von Arjalah zu verdanken – vier Plastikbeutel, versteckt während der Anfal-Kampagnen in einem ausgetrockneten Brunnen. Heute sind sie Teil des Projekts zur Erfassung der Dorfgeschichte, sie werden sorgfältig digitalisiert und – wo möglich – zugeordnet. In vier Dörfern, die in den 80er Jahren mit chemischen Waffen angegriffen und in der Folge zerstört wurden, hat ein Geschichtsprojekt von Wadi und der Partnerorganisation SPI Daten erhoben und ausgewertet. Im Kern ging es darum, das Wissen um die Geschichte der Dörfer vor der Zerstörung zu erhalten.
Geschichte ist von Menschen gemacht und kann auch heute von Menschen gestaltet werden
Saddam Husseins Anfal-Kampagnen zielten nicht nur darauf, möglichst viele Menschen zu ermorden, sondern eine ganze Bevölkerung aus ihrem Leben zu reißen, Traditionen und familiäre Bande zu vernichten und sie ihrer eigenen Geschichte zu berauben. Familien wurden daher getrennt in verschiedenen Landesteilen interniert oder umgesiedelt, die alten Dörfer niedergerissen, Felder vermint. Diese geraubte und vernichtete Geschichte soll wiederentdeckt werden. Dabei sollten sich die Bewohner der Dörfer zugleich der eigenen Möglichkeit bewusst werden, selbst gestaltend zu handeln und ihre Lebensverhältnisse zu ändern. Denn Geschichte ist mehr als die große Erzählung von Heerführern, Generälen, Präsidenten und Revolutionshelden – sie ist von Menschen gemacht und kann auch heute von Menschen gestaltet werden.
Die Entdeckung und Auswertung des Foto-Archivs aus Arjala ist ein Ergebnis dieser Arbeit. Mehr als 500 Fotografien alleine aus Göptepe zeigen die Menschen vor dem Angriff über mehrere Generationen. Und sie erzählen die wechselhafte Geschichte einer ganzen Region. 1958 hatte General Abd-el Kariom Qasem in einem Coup d’Etat die irakische Monarchie gestürzt und eine grundlegende Modernisierung des Irak begonnen. Geduldet wurde die Regierung Qasems von der seinerzeit größten Oppositionspartei des Landes, der Irakischen Kommunistischen Partei, die als erste politische Organisation des Landes über moderne Massenorganisationen verfügte. Ihrem Einfluss ist es zu verdanken, dass Qasem Reformen in weiten Bereichen des Lebens durchsetzte, eine bis heute wirksame Neufassung des Familien- und Erbrechts zum Beispiel, aber auch eine Landwirtschaftsreform, die darauf abzielte, die Massen an landlosen Bauern besser zu stellen und die Landwirtschaft insgesamt zu modernisieren. Das Landwirtschaftsreformgesetz von Ende 1958 versprach jedem Bauern eigenes Land sowie staatliche Unterstützung mit Düngemitteln und Saatgut. Voraussetzung hierfür allerdings war die Registrierung bei der nationalen Bauerngewerkschaft. Von einem Tag auf den anderen benötigten zehntausende Bauern zum ersten mal in ihrem Leben ein Foto. Hier beginnt auch die Geschichte des Fotoarchivs aus Arjalah.
Das Museum soll noch in diesem Jahr eröffnen
Vier Generationen wurden mit einer alten sowjetischen Kamera aufgenommen, immer vor dem selben Hintergrund (einer einfachen hellen Stoffbahn) und fast immer in derselben Pose. Viele der Bauern nutzten die Gelegenheit und ließen von den Fotografen auch gleich Aufnahmen ihrer Familien anfertigen. Herausgekommen ist eine umfassende Bildsammlung von Menschen, deren Leben später auf die brutalste Art vernichtet wurde, und ein einzigartiges Dokument irakischer und kurdischer Geschichte. Das Archiv dient als Grundlage für ein Online-Museum, in dem die Geschichten der Überlebenden, Erzählungen über das Leben einst und die Erinnerung an die Ermordeten gezeigt werden sollen.
Das Projekt wird von WADI mit Förderung des Schweizer Green Cross und in Kooperation mit unserer lokalen Partnerorganisation SPI durchgeführt.