Umweltschutz von unten: Die „Green City“-Kampagne in Halabja

Vielfältiges Engagement der Bürger*innen hat dazu geführt, dass die Stadt Halabja nun im Bereich Umweltschutz in der Region führend ist. Seit dem 16. März 2022 läuft dort eine breit angelegte Bürgerkampagne namens Green City Halabja.

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Am 34. Jahrestag des grausamen Chemiewaffenangriffs, der in Halabja noch immer sehr präsent ist, erklärten engagierte Bürger*innen der Stadt, sie wollten der umfassenden Umweltkrise, mit der sie sich konfrontiert sehen, entschlossen begegnen. Es war ein Aufruf an alle, die sich von der Regierung im Stich gelassen fühlen, die sich aber als mündige, engagierte Bürger Gehör verschaffen und endlich Maßnahmen zum Schutz der Umwelt sehen wollen.

Halabja war Schauplatz eines völkermörderischen chemischen Angriffs durch das Saddam-Regime, bei dem mindestens fünftausend Menschen umkamen und weitere Zigtausende bis heute an Traumata und chronischen Gesundheitsstörungen leiden. Auch für die Umwelt war der Angriff eine Katastrophe, da die Chemikalien Tiere und Pflanzen töteten und in die Gewässer und Böden einsickerten. Menschen, die älter als vierzig Jahre sind und aus Halabja stammen, erinnern sich noch heute lebhaft an die unsagbaren Schrecken, die sich an diesem Tag ereigneten: Fast jeder hat nahe Angehörige verloren.

„Wir sind alle verantwortlich für das, was wir den künftigen Generationen hinterlassen. Es ist sehr wichtig, dass wir gemeinsam handeln, um diesen Planeten zu schützen.“ (Shnyar Yahar)

An jedem Jahrestag des Angriffs kommen Politiker und Medien aus dem ganzen Irak, um der Stadt die letzte Ehre zu erweisen. Trotzdem hat Halabja im Vergleich zu Städten wie Erbil oder Sulaimaniya sehr wenig Förderung und Unterstützung erhalten. Das führt verständlicherweise zu Frustration unter den Einwohnern, die oft das Gefühl haben, dass ihr Leid für politische Zwecke ausgenutzt wird, ohne dass sie selbst irgendetwas davon haben.

Die Gräueltaten des Baath-Regimes haben Halabja zu einem berüchtigten Symbol in der gesamten Region werden lassen. Darüberhinaus ist oft wenig über die Geschichte Halabjas oder seiner Bewohner*innen bekannt. Hierin liegt ein weiterer wichtiger Aspekt der Kampagne: Die Welt soll sehen, dass die Stadt so viel mehr zu bieten hat als eine düstere Geschichtsstunde. Selbst an einem Ort, der so viel Leid erlebt hat, gibt es Hoffnung auf eine bessere Zukunft. Die Bürger*innen von Halabja weigern sich, die durch Umweltzerstörung und Klimawandel rapide sinkende Lebensqualität einfach als Schicksal hinzunehmen. Die Kampagne ist auch als Aufruf an andere in der Region zu verstehen, den Mut zu fassen, sich für die Umwelt einzusetzen.

Kampagne von Bürgern für Bürger

Eine Bürgerkampagne spricht diejenigen an, die kein Vertrauen mehr in die Politik haben; diejenigen, die nur noch sehen, wie eine winzige Minderheit großen Reichtum anhäuft, während die Mehrheit in ländlichen Gegenden wie dem Gouvernement Halabja alleingelassen wird und unterentwickelt bleibt. Der basisorientierte Ansatz sorgt dafür, dass sich die Bürgerinnen und Bürger in die Lage versetzt sehen, für ihre Rechte einzutreten. Es ist eine Kampagne, mit der sie sich selbst identifizieren können.

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Seit dem Start von Green City Halabja haben die Umweltprojekte in der Stadt große Fortschritte gemacht. Die Organisation NWE, Wadis lokaler Partner in Halabja, hat Hunderte von Umweltseminaren durchgeführt und produziert unterdessen wiederverwendbare Tragetaschen aus Baumwolle (schon weit über 5000 Stück sind verteilt), um die Plastiktütenschwemme in der Stadt einzudämmen. In Schulen, Frauengruppen, sozialen Medien und über den Community-Radiosender Dange Nwe werden drängende ökologische und soziale Fragen diskutiert.

Recyclingzentrum

Das Recyclingzentrum Green City Halabja – eine neues Partnervorhaben von ShredUp, NWE und Wadi – hat in den letzten Monaten ebenfalls große Fortschritte gemacht. Die Recycling-Infrastruktur wurde vor Ort kontinuierlich ausgebaut. Inzwischen existiert ein zuverlässiges Netzwerk für die Kunststoffsammlung in der gesamten Gemeinde. Täglich werden Plastikabfälle mit dem Tuk-Tuk (dreirädriges kleines Lastenmotorrad) von verschiedenen Sammelstellen abgeholt und zum Recyclingzentrum gebracht. Die Menge des gesammelten Plastiks nimmt weiter zu, da immer mehr Menschen durch die Öffentlichkeitsarbeit der Kampagne – etwa Beiträge in den sozialen Medien, Fernsehinterviews, Aufklärungsseminare, Radiowerbung, Versammlungen und Mundpropaganda – auf die Notwendigkeit von Recycling aufmerksam geworden sind.

Das Plastik wird in Geschäften, Cafés, Restaurants, vielen Schulen und der Universität gesammelt und dann recycelt. Auch Behörden und das Büro des Bürgermeisters sammeln Plastik, ebenso wie NGOs und viele andere.

Milad – ein ortsansässiger Tuk-Tuk-Fahrer – hat im Rahmen des Recyclingprojekts eine feste Anstellung erhalten und profitiert von diesem stabilen Einkommen. Für den 21-Jährigen bedeutet das in einer Stadt, in der es kaum Arbeitsplätze gibt, dass er nun wirtschaftlich planen kann.

Er kann seine Familie unterstützen und in eine Ausbildung investieren. Auf seinem Tuk-Tuk prangt das leuchtende Schild der Green-City-Kampagne. Auch zuvor hat man in der Stadt gelegentlich Tuk-Tuks gesehen, die mit wiederverwertbaren Stoffen beladen waren – Plastik, Metall oder Pappe -, aber die waren kaum als Umweltunternehmen zu erkennen gewesen, und so gab es bisher eine allgemeine Geringschätzung dieser wichtigen Tätigkeit.

Das Image der Abfallwirtschaft verbessern

In der Tat sahen viele die Müllbeseitigung bisher als eine fast beschämende Branche. Die Green-City-Kampagne will dieses negative Image auf den Kopf stellen. Sie setzt sich für Abfallbeseitiger wie Milad ein, die dafür sorgen, dass die Straßen nicht im Müll versinken.

Unternehmen der Stadt, die eine Partnerschaft mit der Kampagne eingehen und so helfen, den Bekanntheitsgrad und das Ansehen der Müllwerker in der Gesellschaft zu steigern, werden für ihr Umweltengagement belohnt. Cafés, Restaurants und Geschäfte, die einen separaten Abfalleimer für wiederverwertbares Plastik aufgestellt haben, erhalten Anerkennungszertifikate, die dann für die Kundenwerbung ausgestellt werden können. Auch Tags in sozialen Medien können genutzt werden, um die Unternehmen als „Jinga Doste“ – Freunde der Umwelt – auszuweisen.

Der Aufbau einer solchen Infrastruktur ist in Halabja beispiellos. Fast alle Geschäftsinhaber unterstützen die Kampagne. Sie tragen so dazu bei, die von ihren Betrieben ausgehende Abfallmenge zu verringern.

Aufklärung in Universitäten und Schulen

In Seminaren, die NWE und ShredUp regelmäßig in kooperierenden Schulen abhalten, werden die Schüler*innen über regionalspezifische Umweltprobleme wie Wasserknappheit, Umweltverschmutzung und Klimawandel aufgeklärt. So soll die junge Generation dazu inspiriert werden, sich mit diesen Problemen auseinanderzusetzen und auch die Eltern- und Großelterngeneration mit einzubeziehen und zu mahnen, einen bewohnbaren Planeten zu hinterlassen.

Für Shnyar Yadgar, die Koordinatorin des ShredUp-Recyclingprojekts in Halabja, war es eine großartige Gelegenheit, die Organisation von Umweltaktivitäten und die Entwicklung einer nachhaltigen Infrastruktur in ihrer Heimatstadt zu leiten und dafür bezahlt zu werden. Sie ist keine typische Müllwerkerin, denn sie ist jung und eine Frau. Damit ist sie ein großartiges Vorbild, das junge Frauen dazu inspiriert, sich zu engagieren und an Umweltaktionen zu beteiligen.

Shnyar ist sehr froh über die Möglichkeit, mit Wadi und NWE zusammenzuarbeiten:

„Ich bin sehr an Umweltschutz interessiert. Dieser Planet gehört uns allen, und wir müssen alles in unserer Macht Stehende tun, um ihn zu schützen. Wir sind alle verantwortlich für das, was wir den künftigen Generationen hinterlassen. Es ist sehr wichtig, dass wir gemeinsam handeln, um diesen Planeten zu schützen.

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Die Arbeit mit Wadi, ShredUp und NWE macht mich glücklich, und ich fühle mich im Team zu Hause, ich kann meine Ideen frei äußern und ich weiß, dass sie gehört werden.

Es fühlt sich nicht wie ein normaler Routinejob an und es macht mich glücklich, dass ich unterstützt werde, das zu tun, was ich für meine Stadt für richtig halte.“

Die Aufstellung der lokal hergestellten Plastiksammelbehälter in der ganzen Stadt läuft sehr gut, und die Nachfrage nach diesen Behältern nimmt in der ganzen Stadt immer mehr zu.

Wenn die Kunststoffe im Recyclingzentrum angeliefert werden, werden sie von den Mitarbeiter*innen nach den jeweiligen Arten und Farben sortiert. Der größte Teil des gesammelten Kunststoffs ist PET (Polyethylenterephthalat) in Form von Flaschen. Dieser wird zerkleinert und an größere Recyclinganlagen in der nahe gelegenen Großstadt Sulaymaniyah transportiert.

Video von Stundeten der Universität Halabja zur Unterstützung der Kampagne:

Der Erlös aus dem Verkauf dieses Kunststoffs trägt zur Deckung der laufenden Kosten wie Miete und Strom bei. Andere Kunststoffe wie HDPE (Polyethylen hoher Dichte) und PP (Polypropylen) werden für die Verarbeitung vor Ort genutzt. Sie werden zu Granulat zerkleinert, gereinigt und können dann zu einer Vielzahl verschiedener Artikel verarbeitet werden. Das Recyclingzentrum soll eine Vorstellung geben von nachhaltiger Kreislaufwirtschaft, die Arbeitsplätze schafft und zugleich die Umwelt entlastet.

Die ersten in Kurdistan hergestellten Möbel

In der ShredUp-Werkstatt wurden bereits die ersten Möbelstücke aus recyceltem HDPE-Kunststoff fertiggestellt – Sitzbänke, Hocker und Tische. Diese Möbel werden an die Schulen gespendet, die an der Green City-Kampagne teilnehmen.

Jedes Recycling-Produkt besteht aus unzähligen alten Flaschenverschlüssen, Flaschen und Behältern, die eingeschmolzen und zu stabilen Kunststoffbalken verarbeitet wurden.gc8

Möbel aus Plastikabfällen herzustellen, ist für sich genommen schon beeindruckend, aber diese Möbel werden in Halabja, und ausschließlich von Einheimischen, hergestellt. Kinder und Erwachsene können sich anschauen, was man vor Ort aus Abfall machen kann. Die Herstellung schöner Produkte aus „Abfall“ ist ein großartiger pädagogischer Ansatz. Das verändert die Sichtweise der Menschen auf den Wert von Einwegplastik und zeigt ihnen, wie wichtig die Müllabfuhr für die Gesellschaft ist. Die Erzeugnisse werden als modische Lifestyle-Produkte vermarktet. Das führt dazu, dass recycelte Produkte zunehmend als begehrenswert gesehen werden. Der Wert dessen, was man bisher als „Müll“ geringgeschätzt hat, steigt. Dadurch sinkt die Menge an Plastik, die die Umwelt belastet. Zugleich profitieren Menschen vor Ort auch ökonomisch.

Zusammenarbeit mit der Stadtverwaltung

Die Stadtverwaltung von Halabja ist dem Beispiel der Green-City-Halabja-Kampagne gefolgt und hat sich bereit erklärt, in ihren Büros kein Mineralwasser mehr in Einwegplastikbechern mit Alufoliendeckel auszugeben, sondern stattdessen herkömmliche Plastikflaschen mit Schraubverschluss zu verwenden. Diese Becher lassen sich praktisch nicht recyceln, da der Arbeitsaufwand für das Entfernen jedes einzelnen Alufoliendeckels viel zu groß wäre. Deshalb landen täglich Millionen dieser Becher auf der Mülldeponie.

Das Projekt findet auch in lokalen Medien große Resonanz:

Dies ist ein weiterer kleiner Schritt auf dem Weg zur Abfallvermeidung in der Stadt. Viele lokale Einrichtungen – Unternehmen und Behörden – haben sich diesem Schritt angeschlossen. Ziel dieser Initiative ist es, die Verwendung dieser Plastikbecher mit Foliendeckel in der gesamten Stadt zu beenden. Wie bereits erwähnt, hat sich die lokale NGO NWE erfolgreich für die Abschaffung von Einweg-Plastiktüten eingesetzt, und der gleiche Ansatz soll auch hier verfolgt werden: Anstelle von Baumwolltragetaschen können wiederverwendbare Flaschen verteilt und als Alternative beworben werden.

Es ist sehr wichtig, dass die Stadtverwaltung bei der Kampagne mitmacht, weil sie eine Vorbildfunktion erfüllt und von allen Teilen der Gesellschaft sehr respektiert wird. Das gute Zusammenspiel von Verwaltung und Zivilgesellschaft ist wesentlich für eine starke Basisbewegung, die in der Lage ist, mit Unterstützung der Menschen weitreichende Veränderungen zu bewirken. Weil Menschen in der Region nie wirklich erleben, dass von den politisch Verantwortlichen fortschrittliche Veränderungen ausgehen, sind Kampagnen von unten nach oben eine wirksame und bewährte Strategie. Sie binden die normale Bevölkerung ein und geben ihnen die Möglichkeit, sich auf demokratische Weise zu beteiligen und für ihre eigenen Rechte einzutreten.

Der Kampf gegen Plastikmüll in einer einzelnen kleinen Stadt mag unbedeutend erscheinen im Vergleich zu den immensen Klima- und Umweltproblemen in der Region , doch er ist notwendig, um das Bewusstsein zu schärfen und einen Weg anzudeuten, wie die Gesellschaft von Grund auf verändert werden könnte.

Bitte unterstützen Sie dieses wichtige Projekt mit ihrer Spende, bislang wurde diese Kampagne nämlich völlig mit privaten Spenden finanziert
Mehr über unsere Projekte zum Schutz von Umwelt und Ressourcen im Nahen Osten und Griechenland.