Im Irak ist ein neues Gesetz in Kraft getreten, das nach der schiitisch-jafarischen Rechtsschule Kinderheiraten legalisiert. Das stößt auf Widerstand – auch unter sunnitischen Klerikern. Wadi und unsere Partnerorganisationen unterstützen verschiedene Aktivitäten und Kampagnen gegen dieses Gesetz
Von Arvid Vormann, 30.09.2025

„Kinder, keine Bräute“ – Mädchen in einem Dorf im Nordirak, BIld: Wadi e. V.
Im Irak werden Frauen möglicherweise bald noch weniger Rechte haben als bisher schon. Das irakische Parlament hatte im Frühjahr einer entscheidenden Änderung des Personenstandsgesetzes Nr. 188 von 1959 zugestimmt, die ab September offiziell in Kraft getreten ist.
Demnach können Ehemänner im Irak nun wählen, ob ihre Ehe zivilem oder schiitischem Kodex unterliegen soll. Dies wird zu einer weiteren Fragmentierung des Rechts beitragen und erhebliche Auswirkungen auf die rechtlichen Rahmenbedingungen für Ehe, Scheidung, Sorgerecht und Erbschaft mit sich bringen. Das Vorhaben stößt auf erhebliche Widerstände – vor allem aus den Reihen sunnitischer Islamgelehrter.
Zudem wurde es unter äußerst fragwürdigen Umständen verabschiedet. Schon 2014 hatten schiitische Parteien einen entsprechenden Vorschlag eingebracht, der damals allerdings am Widerstand der Mehrheit scheiterte. Diesmal versuchten sie es mit einer Art „Kuhhandel“: Sunnitischen Abgeordneten wurde im Gegenzug ein Amnestiegesetz versprochen, kurdischen die Änderung umstrittener Landbesitzfragen in Kirkuk. So passierte das Gesetz in einem Paket, ohne dass es eine umfangreiche Diskussion oder Lesung im Parlament gegeben hätte.
Schon bisher galt, dass Christen, Jesiden und andere Nichtmuslime im Familienrecht ihren eigenen spezifischen Gesetzen unterliegen, die auf den jeweiligen religiösen Traditionen basieren. Doch immerhin war das Gesetz von 1959 insofern „fortschrittlich“, als dass es alle Muslime gleich behandelte und einige grundlegende Menschenrechte auch für Frauen und Kinder garantierte.
Zukünftig würde das nicht mehr gewährleistet sein, denn Familienangelegenheiten könnten dann, statt vor einem ordentlichen Gericht nach kodifiziertem Recht, von Klerikern weitgehend nach Gutdünken geregelt werden. Jede Rechtsschule wäre dann frei, ihre eigenen Regelungen gemäß ihrer Interpretation der Scharia festzuschreiben, selbst wenn diese gegen die Verfassung verstoßen. Das würde zu vielen erratischen und willkürlichen Entscheidungen führen, die vor allem die Rechte von Frauen und Kindern gefährden.
Kritik von vielen Seiten
Der neue Kodex der schiitischen Rechtsschule wird von vielen Seiten kritisiert. Zwar wurde das Mindestheiratsalter für Mädchen nach massiven, auch internationalen, Protesten von neun auf immer noch problematische fünfzehn Jahre heraufgesetzt, doch auch andere Bestimmungen benachteiligen Frauen und Kinder massiv und verstoßen zweifellos gegen die Menschenrechte. So können Frauen lediglich dann die Scheidung verlangen, wenn sie verlassen worden sind, finanziell nicht versorgt werden oder nachweislich und andauernd misshandelt werden. Wenn das Religionsgericht keinen dieser Gründe erkennt, ist die Frau in der Ehe gefangen. Der Mann kann dagegen jederzeit umstandslos die Scheidung einreichen.
Im Falle der Trennung werden Kinder bis zum siebten Lebensjahr der Mutter zugesprochen, ältere Kinder dem Vater. Sobald ein Kind das achte Lebensjahr erreicht, geht es automatisch auf den Vater über. Das Kindeswohl wird dabei nicht berücksichtigt.
Wenn die Mutter erneut heiratet, verliert sie das Sorgerecht für alle ihre Kinder. Gleiches trifft auch auf den häufigen Fall zu, in dem die Mutter aus Furcht vor ihrem gewalttätigen Ehemann zu ihren Eltern flüchtet. Sie verliert dann neben ihren Kindern auch sämtliche finanziellen Ansprüche. Das Schariagericht wird von ihr verlangen, entweder zu ihrem Mann zurückzukehren oder die Scheidung zu beantragen. Außerdem gilt: Frauen können von ihrem Ehemann nicht erben. Lediglich in dem unwahrscheinlichen Fall, dass die Frau das einzige verbliebene Familienmitglied ist, erhält sie ein Viertel des Erbes, der Rest fließt dem schiitischen Stiftungsamt zu.
(Details des neuen Gesetzes haben die beiden im Irak tätigen Organisationen ADWI und Wadi hier zusammengetragen)
All diese Regelungen könnten vom Ehemann in Anspruch genommen werden, selbst wenn er nicht der schiitischen Glaubensgemeinschaft angehört. Der Mann hätte auch in einer bestehenden Ehe vor Gericht jederzeit die Möglichkeit, die Anwendung schiitischen Rechts zu verlangen. Der Einspruch der Ehefrau wäre dabei nichtig.
Widerstand sunnitischer Kleriker
Unter sunnitischen Klerikern und Rechtsgelehrten ist die Reform hoch umstritten. Im Jahr 2019 hatte die Al Azhar Universität in Kairo einen Fatwa erlassen, die damals für Aufsehen sorgte und festlegte, dass das Heiratsalter 18 Jahre betragen und eine Ehe nur unter Einwilligung beider Partner rechtsgültig sein könne. Man sieht daher bei der bisherigen Gesetzeslage, die ebenfalls das reguläre Heiratsalter bei 18 sieht (auf Antrag 15) keinen Änderungsbedarf und lehnt insgesamt die rigide Entrechtung von Frauen und Kindern entschieden ab. Auch mit dem neuen Rechtspluralismus mögen sich viele nicht abfinden. Das Argument, es bestehe schließlich kein Zwang, sich schiitischem Recht zu unterwerfen, und es stehe den Sunniten frei, ihren einen eigenen Familienrechtskodex zu entwickeln, lassen sie nicht gelten.
So betont der Imam einer großen Moschee in Erbil, Dr. Youssef Abdullah, das Gesetz von 1959 berücksichtige bereits sowohl schiitische als auch sunnitische Rechtstraditionen, ohne dabei die Menschenrechte aus dem Blick zu verlieren. Dieses Gesetz habe immer gut funktioniert, man wolle daher keinen „eigenen“ sunnitischen Kodex. Er erklärt, dass Frauen unter schiitischer Rechtsprechung keinerlei Rechte hätten, Männer dagegen jederzeit die „muta“ (Zeitehe, de facto eine Form der Prostitution) praktizieren dürften. Der Vater habe durch die ihm zugewiesene gesetzliche Vormundschaft unumschränkte Macht über seine Töchter und könne sie ohne Weiteres gegen ihren Willen früh- und zwangsverheiraten. All dies widerspreche der sunnitischen Rechtsauffassung.
Bereits jetzt sorgt die große Ungleichheit zwischen den Geschlechtern für erheblichen gesellschaftlichen Leidensdruck im Irak. Häusliche Gewalt, Polygamie und Frühverheiratungen sind weit verbreitet, die Scheidungsrate ist hoch und unglückliche, von physischer und psychischer Gewalt geprägte Ehen die Regel. Mädchen erfahren neben Gewalt auch systematische Benachteiligungen verschiedener Art. Fragt man Kinder im Irak nach ihren Rechten, antworten sie: „Wir haben keine Rechte“. Diese Gesetzesreform würde die bestehenden Probleme verschärfen und das Unrecht gegenüber Frauen und Kindern vervielfachen. Die endgültige Entscheidung liegt nun beim Obersten Gerichtshof des Irak.
Wadi und unsere Partner planen im November verschiedene Veranstaltungen und Events, die das Thema problematisieren sollen. Außerdem sind wir mit Menschen- und Frauenrechtsorganisationen in anderen Teilen des Irak in engem Kontakt.
Hier weitere Hintergründe zu dem Gesetz:
