„FGM ist nicht der einzige Grund für Polygamie…“

Zwei Wadi-Mitarbeiterinnen und Aktivistinnen sprechen über ihre Arbeit zur Bekämpfung von weiblicher Genitalverstümmlung (FGM) und anderen Formen der Gewalt in Irakisch-Kurdistan.

FGM-Aufklärungsteam in der Nähe von Ranya

Die Pishder-Region in Irakisch-Kurdistan ist bekannt für häusliche Gewalt und weibliche Genitalverstümmelung. Als Wadi die erste Studie im Jahr 2009 in diesem Gebiet durchführte, war die Rate der verstümmelten Mädchen und Frauen die höchste in Irakisch-Kurdistan. In manchen Dörfern waren sogar 100 % der Frauen und Mädchen verstümmelt.

Wadi arbeitet hier seit 2003 und versucht Frauen und Kinder mental zu stärken. Seitdem konnten manche Erfolge erzielt werden – ein Rückgang weiblicher Genitalverstümmelung ist in ganz Irakisch-Kurdistan zu beobachten –, einige Probleme verbleiben jedoch weiterhin.

Wir haben Parwen Abdullah Khidr und Nwa Khidr interviewt, beides Mitarbeiterinnen von Wadi, die in der Pishder-Region arbeiten und einen Einblick in ihren Arbeitsalltag geben möchten.

Wie ist es für Euch als Menschenrechtsaktivistinnen sich mit einem Thema wie weiblicher Genitalverstümmlung zu beschäftigen?

Parwen: Obwohl wir gemischte Reaktion erhalten, ist es sehr wichtig, über dieses Thema zu diskutieren. Ich fühle mich sehr erleichtert über dieses Thema sprechen, die Aufmerksamkeit auf den Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung lenken zu können und Frauen dabei zu helfen, sich gegen häusliche Gewalt zu wehren.

Nwa: Natürlich ist es ein wichtiges Thema. Obwohl weibliche Genitalverstümmelung mittlerweile seltener vorkommt, ist sie nicht endgültig verschwunden. Es wird weiterhin geheim praktiziert, weil es Menschen gibt, die glauben, daran festhalten zu müssen.

Wie verarbeiten bereits betroffene Frauen, mit denen Ihr zusammenarbeitet, dieses Ereignis und wie betrifft es ihr weiteres Leben?

Parwen: Aus Berichten von Betroffenen wissen wir, dass die Sexualität am meisten davon beeinträchtigt ist. Manchmal, nachdem wir die physische Gefahren von weiblicher Genitalverstümmelung erklärt haben, sagen die Frauen: „Oh, darum leidet mein Körper unter diesem oder jenem“.

Nwa: Es ist ein gewaltiges psychisches Trauma und man spürt, wie die Betroffenen damit kämpfen. Diese Frauen vergessen niemals den Tag, an dem sie verstümmelt worden sind. Sie erklären: „Wenn ich daran denke, bekomme ich immer noch Gänsehaut“, oder: „Selbst der Schmerz, fünf Kinder zu gebären, ist nicht vergleichbar mit meiner Verstümmlung“.

Habt Ihr jemals eine Frau getroffen, die trotz der Verstümmlung ein zufriedenstellendes Sexualleben mit einem hilfsbereiten Ehemann haben kann?

Parwen: Manchmal hören wir von den Frauen, dass ihre Ehemänner hilfsbereit sind und Verständnis aufbringen, wenn es um die Verstümmelung geht. Aber die Mehrzahl der Frauen hat Probleme mit ihren Ehemännern bezüglich des Sex.

Nwa: Es gibt manche Frauen, die äußern, dass sie diesbezüglich keine Probleme hätten. Meines Erachtens ist dieses Phänomen mit Scham verbunden, selbst wenn sich die Frauen in einem Umfeld befinden, in dem sich um sie gekümmert wird. Offen über sexuelle Probleme zu sprechen, ist immer noch sehr schwierig für sie. Die Schwere der Verstümmelung macht ebenfalls einen bedeutenden Unterschied. Bei denjenigen Frauen, deren Schamlippen mehr oder weniger aufgekratzt statt komplett entfernt wurden, entstand ein geringerer Schaden als bei den schlimmsten Fällen, welche die Prozedur mehrmals überstehen mussten.

FGM-Seminar für Männer

Neigen Frauen, die von Genitalverstümmelung betroffen sind, eher dazu, häusliche Gewalt zu tolerieren?

Parwen: Ja, weil die betroffenen Frauen sich innerlich unsicher fühlen und wissen, dass sie ihren Ehemann nicht zufriedenstellen können. Deshalb tolerieren sie Einiges, darunter auch häusliche Gewalt.

Nwa: Selbst während des Geschlechtsverkehrs werden viele Frauen gedemütigt. Der Mann beschwert sich lautstark über ihre fehlende Reaktion, statt es zu verstehen und sich zu kümmern. Wegen dieser Unsicherheiten akzeptieren die Frauen alles.

Was kann getan werden, um neue Fälle von weiblicher Genitalverstümmelung zu verhindern?

Parwen: Wichtig ist Aufmerksamkeit. Dadurch konnten wir bereits viele Frauen retten. Kürzlich erzählte mir eine Frau: „Ich kann niemanden finden, sonst würde ich es tun“. Nach dem Seminar war sie überzeugt, dass sie das ihrer Tochter nicht antun kann. Für mich ist eine erhöhte Aufmerksamkeit für dieses Phänomen die vielversprechendste Verbesserungsmöglichkeit.

Nwa: Selbstverständlich die Herstellung von Aufmerksamkeit. Aber nicht nur durch Hausbesuche – wir müssen auch die Medien nutzen, um durch Kurzfilme, die das Leiden der Frauen schildern, vor den sexuellen Problemen durch weibliche Genitalverstümmelung zu warnen. In diesen Prozess müssen zudem Kleriker und wichtige öffentliche Personen einbezogen werden, da ihnen viele Menschen aus unserer Community zuhören, insbesondere Männer.

Wie kommt es dazu, dass sich Männer für Themen wie weibliche Genitalverstümmelung und häusliche Gewalt beginnen zu interessieren?

Parwen: In der Vorstellung der Männer wird die Praxis der weiblichen Genitalverstümmelung mit Müttern und Tanten in Verbindung gebracht. Dadurch können sie behaupten, dass sie nichts davon wüssten.

Nwa: Es gibt viele Männer, die sich gegen das Gesetz Nr.8 von 2011 zur Bekämpfung häuslicher Gewalt aussprechen. Dieses Gesetz wurde von dem kurdischen Parlament verabschiedet, um alle Formen der Gewalt gegen Frauen und Mädchen zu kriminalisieren. Viele denken aber, dass dadurch familiäre Probleme entstehen. Sie berichten etwa: „Es wird in jedem Haushalt geschrien und geflucht, aber dieses Gesetz ermutigt unsere Frauen gar nichts mehr von dem zu akzeptieren, was wir sagen“. Falls eine Frau ihren gewalttätigen Ehemann anzeigt, kann er entscheiden sich von ihr scheiden zu lassen, da sie seinem Ansehen in der Gesellschaft geschadet hat. Solche Fälle erleben wir oft vor Gericht.

Wie positionieren sich Frauen und Männer zu Polygamie?

Parwen: Kurz gesagt, viele Männer unterstützen es, Frauen lehnen es ab. In fast jedem Seminar mit Männern fragen sie uns, ob nicht die Gesetze geändert werden können, damit sie mehrere Frauen haben dürfen.

Nwa: Ja, das ist ein großes Thema für sie. Bei jedem Treffen mit religiösen Führern, Bürgermeistern und Männern werde ich als Anwältin gefragt, ob ich dieses Gesetz ändern kann, weil Polygamie mit der Religion vereinbar ist. Wir werden gefragt: „Frauen sind Männern zahlenmäßig überlegen, was werden sie tun, wenn sie keine Männer haben, die sie heiraten können?“ Frauen sind gegen die Polygamie, manche sagen uns aber, dass sie zur Polygamie gezwungen werden, entweder durch die Unterzeichnung entsprechender Dokumente oder um ihre Familie zu schützen.

Habt ihr bisher von Männern gehört, die eine ursächliche Verbindung zwischen Polygamie und weiblicher Genitalverstümmelung herstellen?

Parwen: Im Gespräch mit Frauen erkennt man, warum Männer andere Frauen haben wollen. Oft erzählen sie uns, dass ihre Ehemänner sehr unzufrieden mit ihrem Sexualleben sind. Sie beschreiben es „als Stück Holz und kalt“. Für ein besseres Sexualleben wählen Männer die Polygamie.

Nwa: Ich würde nicht sagen, dass weibliche Genitalverstümmelung die einzige Ursache für Polygamie ist. Sie hat aber einen großen Einfluss und trägt entscheidend zur aktuellen Situation bei. Die meisten Männer verstehen nicht, dass ihre Frauen nicht „kalt“ sind, weil sie eine Abneigung gegen sie haben, sondern weil es eine direkte Folge der Genitalverstümmelung ist.

Im Gespräch mit religiösen Vertretern

Ihr bietet auch Seminare für Kleriker (Mullahs) an. Welche Position nehmen sie bezüglich weiblicher Genitalverstümmelung und Polygamie ein?

Parwen: Die Mehrheit der Personen, die wir bisher trafen, ist dagegen. Aber es gibt immer noch welche, die es befürworten und die Menschen ermutigen, es weiter zu tun. Wir veranstalteten kürzlich ein Seminar in der Region Chwarqurna, bei dem ein Mullah weibliche Genitalverstümmelung rechtfertigte, indem er behauptete, dass es theologische Beweise dafür im Islam gäbe. Andere Mullahs machten ihm diese Behauptung aufgrund ihrer Falschheit zum Vorwurf.

Nwa: Es gibt einige Mullahs, die gegen uns sind und sagen: „Ihr verbreitet nicht-religiöse Überzeugungen“. Aber normalerweise äußern sich Männer folgendermaßen: „Wir wissen nicht, wann die Genitalverstümmelung unseren Töchtern angetan wird, weil ihre Mütter dafür verantwortlich sind“. Bis heute gibt es Fälle, bei denen uns Frauen berichten, dass ihre Ehemänner darauf bestanden, die Genitalverstümmelung vorzunehmen – mit der Begründung: „Sie wird sonst eine Schande sein [wenn sie nicht verstümmelt ist]“.

Erfüllt besagtes Gesetz Nr.8 seine Aufgabe, häusliche Gewalt effektiv zu bekämpfen? Falls nicht, wie kann man es verbessern?

Nwa: Gesetz Nr.8 kann eine entscheidende Rolle spielen, wenn es so erklärt wird, wie es tatsächlich ist. Leider nehmen die Männer aber an, dass dieses Gesetz ihren Familien schadet, für das potenziell „schlechte Verhalten“ ihrer Ehefrauen verantwortlich ist und Frauenrechte stärker als Männerrechte gewichtet.

Welche Vorschläge zur Verbesserung der Situation von Frauen habt Ihr für die Behörde zur Bekämpfung häuslicher Gewalt und andere Regierungsbehörden?

Parwen: Ich denke, eine erhöhte Aufmerksamkeit für dieses Phänomen könnte die Situation der Frauen bedeutend verbessern. Darauf sollten sich die Behörde zur Bekämpfung häuslicher Gewalt und andere Regierungsbehörden fokussieren. Die Rolle der Gerichte ist ebenso essenziell, oft wird nicht gerecht entschieden.

Nwa: Theatervorführungen und Kurzfilme im Fernsehen könnten die Aufmerksamkeit für weibliche Genitalverstümmelung und das Leiden der Frauen bzw. ihrer Familien erhöhen. Zudem sind die religiösen Führer wichtig, da ihre Predigten weibliche Genitalverstümmelung bekämpfen und die Menschen ermutigen sollten, diese Praxis zu unterlassen.

Welche positiven und überraschenden Dinge konntet ihr in diesem Arbeitsfeld bisher erleben?

Nwa: Kinder vor der Genitalverstümmelung zu retten, ist die größte Sache für uns – damit können wir einen gravierenden Einschnitt in ihr Leben vermeiden. Wir lieben es, im Rahmen unseres Spielbus-Projekts Zeit mit den Kindern zu verbringen, ihre Zufriedenheit zu spüren und viele Menschen aus verschiedenen Regionen und Kulturen zu treffen. Bei einem Treffen mit religiösen Führern lobte uns der Vorsitzende des Fatwa-Rates für unsere Courage, 22 Mullahs direkt auf häusliche Gewalt und weibliche Genitalverstümmelung anzusprechen. Er äußerte sogar seine Bereitschaft, uns dabei zu helfen, zusätzliche Seminare für religiöse Führer abzuhalten. Für uns war das ein großer Erfolg.

Parwen: Bei dem kürzlichen Seminar für religiöse Führer in Chwarqurna war ich über die positive Resonanz äußerst erfreut. Ein Mullah sagte sogar: „Wir sind stolz auf Euch, dass Ihr in diese Richtung arbeitet und sehen Euch in der Führungsrolle“. Ich werde niemals diese Aussage vergessen, weil es für einen Mullah so wichtig ist, unsere Arbeit auf diese Weise anzuerkennen. Trotzdem haben viele noch eine negative Meinung zu NGOs.

Kinder beim Spielen im Rahmen des Spielbus-Projekts

Wie sieht es mit den Herausforderungen aus?

Parwen: Einmal gaben wir ein Seminar, wobei uns nicht bewusst war, dass der Hauseigentümer im Nebenraum schlief. Plötzlich kam er raus und schrie uns an: „Warum seid ihr hier?“ und schlug nach unserem Kabel. Wir waren davon wirklich geschockt.

Nwa: In einigen Gegenden ist es hart, wenn du versuchst, die Frauen zu versammeln und sie nicht die Tür öffnen, unsere Anrufe ignorieren oder uns sagen: „Ihr könnt Euer Seminar nicht in unserem Haus veranstalten“. Manchmal grüßen sie uns nicht einmal. In der Situation, die Parwen angesprochen hat, versuchte ich Fotos zu machen, aber ich war komplett erstarrt, ich dachte, er würde uns wirklich schlagen. Aber wir erklärten schnell die Situation, um ihn zu beruhigen. Wir konnten keine guten Bilder machen, da Männer meist nicht erlauben, dass in den Seminaren Bilder von den Frauen geschossen werden.

Ihr arbeitet auch in dem Spielbus-Projekt in Eurer Umgebung mit. Welchen Stellenwert haben Kinder?

Parwen: Kinder werden hier nicht geschätzt. Sie leiden unter Vernachlässigung, sind aber auch oft Opfer von Gewalt. Ich habe bisher noch niemanden getroffen, der sein Kind nicht schlägt. Einmal schlug ein Lehrer einen Schüler in unserer Anwesenheit. Wir erhalten sehr viele Beschwerden von den Schülerinnen und Schülern. Dann versuchen wir mit den Lehrerinnen und Lehrern und der Schulverwaltung zu sprechen.

Nwa: Gewalt ist sowohl in der Schule als auch zuhause präsent. Häufig versuchen die Schülerinnen und Schüler die Gewalt, unter der sie leiden, zu verstecken, weil sie Angst vor den Lehrerinnen und Lehrern haben. Wir benötigen angemessene Bildungsmethoden und raten dringend dazu, ein Bewusstsein für Kindererziehung zu entwickeln.

Das Interview wurde von Shokh Mohammad geführt.