Gewaltfrei lernen. Gewaltfrei leben! Schulen ohne Gewalt im Nordirak

Im November beginnt die „Keine-Gewalt-gegen-Kinder“-Kampagne von Wadi mit fünf Schulen.

In Kriegs- und Krisenregionen ist Gewalt allgegenwärtig. Gewalt bleibt, lange nachdem die letzten Kämpfer abgezogen, der letzte Schuss gefallen ist. Sie nistet sich ein in den Erinnerungen und Erfahrungen der Menschen und pflanzt sich fort in Familien und Schulen.

23319161_1738493146446138_4516125610129971554_n

Das Logo der Kampagne auf Kurdisch, Englisch und Arabisch

 Im Irak und dem kurdischen Norden des Landes ist die Erfahrung von Gewalt und Unterdrückung über mehrere Generation und alle Gesellschaftsschichten hinweg prägend. Seit Ende der 70er Jahre führte die Ba’th-Regierung Saddam Husseins einen grausamen Krieg gegen die Bevölkerung im Norden des Landes, der in der systematischen Zerstörung von Städten und Dörfern, der Deportation und Zwangsumsiedelung hunderttausender Menschen und dem vielfachen Einsatz chemischer Kampfstoffe gegen die Zivilbevölkerung gipfelte. »Regieren« bedeutet Gewalt ausüben, Kontrollieren und Unterdrücken. Diese Erfahrung prägt das öffentliche und private Leben bis heute.

Kinder sind — als diejenigen, die über die geringsten eigenen Machtmittel verfügen und in höchstem Maße von anderen abhängig sind — der Gewalt in krisenhaften Gesellschaften in besonderem Maße ausgesetzt.

Gewalt gegen Kinder äußert sich durch körperliche und psychische Misshandlungen, Züchtigungen, Vernachlässigung und sexuelle Übergriffe. Sie findet statt in Familien und an Schulen. Eltern reichen die eigene Erfahrung von Gewalt an ihre Kinder, Lehrer an ihre Schüler weiter.

Die Geschlagenen von heute sind die Schläger von morgen.

WADI hat nun eine Öffentlichkeitskampagne ins Leben gerufen, die genau hier ansetzt: Der Teufelskreis von Gewalt, die immer neue Gewalt hervorbringt, soll durchbrochen werden, indem sich Lehrer gemeinsam mit ihren Schülern bewusst entscheiden, auf jede Form der Gewalt zu verzichten und Regeln des respektvollen Umgangs aufzustellen.

Wie nötig dies ist, zeigen die Befragungen, die an den ersten Schulen durchgeführt wurden. Kinder berichten von Schlägen und erniedrigenden Strafen als alltägliches Erziehungsmittel an Schulen. Praktisch jede/r befragte Schüler/in kennt ein Kind, das zuhause geschlagen oder missbraucht wird.

In diesem Video beklagen Schülerinnen und Schüler, wie sie von ihren Lehrern geschlagen und misshandelt werden (Englische Untertitel):

 

Fünf Schulen im Süden Irakisch-Kurdistans haben sich der Kampagne bereits angeschlossen und tragen den Titel »Gewaltfreie Schule«.

Sie alle liegen in der Region Germian, die vor dreißig Jahren ganz besonders hart von den Vernichtungsaktionen der irakischen Armee betroffen war. Sie haben sich selbst verpflichtet, keine Schläge und Misshandlungen an ihrer Schule mehr zuzulassen. Weitere Schulen haben sich gemeldet, die an dem Programm teilnehmen möchten.

Die Lehrer*innen aller beteiligten Schulen erhalten ein Anti-Gewalt-Training und umfangreiche Unterstützung, die auch die Eltern mit einbezieht. In Gesprächen und auf Veranstaltungen mit den Kindern werden diese ermutigt, für ihre Rechte einzustehen. Sie lernen, wie sie sich bei Übergriffen verhalten können und wo sie Übergriffe melden können.

pic1

Die gesellschaftliche Relevanz einer gewaltfreien Erziehung ist augenfällig. Die gewaltsame Durchsetzung und Aufrechterhaltung politischer wie wirtschaftlicher Herrschaftsansprüche prägt die politische Kultur des Irak und untergräbt unmittelbar alle Bemühungen zum Aufbau demokratischer Strukturen. Von allen erlebte Missstände — mangelnde demokratische Teilhabe, Rechtsunsicherheit, Korruption — gründen auf (der Androhung von) Gewalt.

Schulen sollten Kinder nicht zu Untertanen, sondern zu Bürgern erziehen, die gleiche Rechte und Pflichten genießen und über Mittel verfügen, diese gewaltfrei durchzusetzen. Das sehen in Kurdistan immer mehr Menschen so.

Ihren Anfang hat die Anti-Gewalt-Kampagne nicht zufällig 30 Jahre nach den Giftgasangriffen auf die Stadt Halabja genommen. Das Ziel starker, selbstbewusster Kinder, die zu Bürgern werden, die ihre Rechte durchzusetzen wissen, ist die Antwort auf die weit verbreiteten Gewaltverhältnisse der Region.

Die „No to Violence Campaign“ hat auch einen eigenen Facebookauftritt auf Kurdisch, Arabisch und Englisch:

no toviol

Die Kampagne wird lokal unterstützt von ehemaligen Peshmerga, die damals gegen die irakische Regierung kämpften, und von Überlebenden der Anfal-Kampagne. Sie findet in enger Zusammenarbeit mit anderen Organisationen und lokalen Behörden statt.

Dies sind die ersten fünf Schulen, die den Titel »gewaltfreie Schule« tragen werden.

Noch viele andere Schulen wollten teilnehmen, mussten aber wegen begrenzter Mittel vorerst vertröstet werden. Aber dies ist erst der Beginn, und es ist geplant, dass in den nächsten Monaten und Jahren viele weitere Schulen in Irakisch-Kurdistan und dem Irak sich an diesem Programm beteiligen.

Eingebettet ist diese Aktivität in eine größere Kampagne gegen alle Formen von Gewalt an Kindern und Frauen.

Auch Sie können mit einer Spende helfen, dass weitere Schulen im Nordirak sich zu Orten ohne Gewalt erklären.