„Die Resultate einer neuen Studie zu weiblicher Genitalverstümmelung (FGM) im Oman sind schockierend: 95,5 Prozent der Frauen berichten, dass sie verstümmelt worden seien. Im Rahmen der Studie wurden in der Provinz Dakhiliyah im letzten Quartal 2017 200 Frauen verschiedenen Alters und mit unterschiedlichen Bildungshintergründen befragt.
Die Studie von Hoda Thabet und Azza Al Kharousi wurde unter der Überschrift ‚Placing Oman on the map‘ veröffentlicht. Auf der Karte der UNO fehlt der Oman bislang in der Tat als Land, in dem weibliche Genitalverstümmelung stattfindet. Stop FGM Middle East und zahlreiche NGOs, die sich mit dem Thema befassen, haben es schon länger im Visier. Dass die UNO sich dem Oman annimmt, ist aber ein wichtiger erster Schritt, um Diskussionen mit der Regierung im Oman darüber aufnehmen zu können, wie diesem Verstoß gegen die Menschenrechte Einhalt geboten werden kann.
Die absolute Dringlichkeit zum Handeln wird durch die neuen Erkenntnissen und Zahlen noch ein weiteres Mal verdeutlicht. Anscheinend ist die Verbreitung der Praxis in Dakhiliyah signifikant höher als angenommen und auch höher als in der Hauptstadt Maskat: Hier hatte eine Studie Habiba Al Hinais – der zufolge 78 Prozent der befragten Frauen genitalverstümmelt waren – schon 2013 für Aufsehen gesorgt. Auch die Interviewer selbst waren schockiert, weil man bis dahin davon ausgegangen war, dass FGM nur in Dhofar, dem großen südlichen Gouvernement des Omans, ein Problem darstelle.
Mit beinahe 100 % Betroffenen unter den befragten Frauen in Dakhiliyah sind die Ergebnisse der neuen Studie umso desillusionierender und gravierender. Einem Gespräch mit einer der Studienautorinnen, Hoda Thabet, zufolge gaben von den 200 Frauen nur 5 an, nicht Opfer der brutalen Praxis geworden zu sein – darunter nur eine ohne Migrationshintergrund.
Alle weiteren Frauen in der Studie gaben entweder an, beschnitten zu sein oder beantworteten die Frage nicht, möglicherweise auch mangels Aufklärung und Erinnerung.
Eigenverantwortliches Umdenken nicht zu erwarten
Es kommt hinzu, dass unter den Frauen die Bereitschaft, sich von der Praxis zu verabschieden, beinahe nichtexistent ist. 86 Prozent der Befragten taten kund, dass sie ihre Töchter ebenfalls beschneiden wollten oder es schon getan hätten. Auch in dieser Frage gab es keinen Unterschied zwischen älteren und jüngeren Frauen. Auffällig war hingegen, dass Frauen mit Universitätsabschlüssen leicht häufiger ihre Töchter verschonen wollten; dennoch war auch die Mehrheit der gebildeten Frauen FGM-befürwortend.
Nur die wenigsten Frauen in Dakhiliya konnten beantworten, welchem Typ von FGM sie zum Opfer gefallen sind, was einen weiteren Unterschied zur Situation in der Hauptstadt Maskat darstellt, in der viele Frauen immerhin angaben, man hätte sie der Prozedur einer „sunnitischen Beschneidung“ unterzogen. (Unter einer sunnitischen Beschneidung wird häufig eine bloße Verkürzung der Klitorisvorhaut verstanden, in der Realität handelt es sich aber meist um Typ I, was heißt, dass sie der Entfernung des gesamten Teils der sichtbaren Klitoris entspricht).
Aus Umfragen, die es in anderen Ländern gab, ist zudem bekannt, dass Frauen, die glauben, eine sunnitische Beschneidung erhalten zu haben, in nicht wenigen Fällen auch ernstere Amputationen erlitten. Es ist insgesamt üblich, dass in sunnitischen Regionen, in denen die Menschen religiös motiviert an FGM festhalten und ihre Beschneidungen „sunnitisch“ nennen, Typ 1 und Typ 4 (einschneiden oder einstechen) am häufigsten zu finden sind.
Über die Situation in Dakhiliyah diesbezüglich Mutmaßungen anzustellen ist noch schwierig. Allgemein ist über die Genitalverstümmelungssituation im Oman noch viel zu wenig bekannt.
Eine 2013 stattgefundene Exkursion in Dhofar von Vertretern der NGO Stop FGM Middle East ergab, dass es in dieser Region zu Entfernungen von mehr als einem Zentimeter an den Vaginen weiblicher, dort lebender Babys im Alter von gerade mal acht Wochen kommt.
Gesellschaftliche Berührungsängste bleiben
Die gesamte Thematik bleibt tabuisiert. Die Studienmitautorin Azza Al Kharousi schreibt: „Das Gespräch mit der jüngeren Generation war konfliktlos, aber viele ältere Frauen um die 60 und drüber lehnten das Thema entschieden ab… Mit FGM konfrontiert begann eine Dame in ihren Siebzigern herzumzuwüten….“
Nicht bloß einfache oder mittelständige Frauen meiden es darüber zu reden. Sogar promovierte Frauen schämen sich angesichts dieser Themen, wie das Stop FGM Middle East-Exkursionsteam von 2013 hatte feststellen müssen. In einem Krankenhaus fand sich kein einziger Arzt, der bereit war, mit ihnen zu sprechen.
Neben ihrem persönlichen Umfeld und der Gesellschaft fürchten die potentiellen Gesprächspartnerinnen auch die Regierung. Aktivistinnen berichteten, dass in arabischen Foren und Organisationen der Austausch über FGM üblicherweise zensiert werden würde. Lediglich in englischsprachiger Öffentlichkeit hätten Omanerinnen, im Oman lebende Aktivistinnen und in den Oman eingewanderte Personen die Möglichkeit zum kritischen Austausch über Genitalverstümmelung.
Ambivalente Regierung
Der Staat Sultan Qabus’ reagiert auf die Diskussion religiöser Fragen im Allgemeinen mit großer Empfindlichkeit. In der omanischen Gesellschaft sind die Verstümmelung weiblicher Genitalien und die Religion eng miteinander verknüpft. Die Mehrheit der Frauen gab an, dass sie ihre Töchter aus religiösen Gründen beschneiden würde. Während in einer vorangegangenen Studie nur 53 Prozent der Frauen angaben, der Islam schreibe die Verstümmelung vor, waren es diesmal 72,5 Prozent.
Allerdings befürwortet auch der Staat die Praxis nicht ganz eindeutig. Einerseits dürfen Krankenhäuser den Eingriff nicht vornehmen, andererseits unternimmt der Staat keinerlei Anstrengungen, mit Bildungsmaßnahmen und aufklärenden Initiativen gegen die Praxis vorzugehen.
Eine praktizierende omanische Ärztin, Al Kharousi, trägt folgende Zeilen zur Studie bei: „Weibliche Genitalverstümmelung (FGM)/die Beschneidung von Mädchen wird nicht in der medizinischen Fakultät der Sultan-Qabus-Universität gelehrt. Seit der Gründung im Jahr 1986 bis zum heutigen Tage ist FGM nicht im Lehrplan enthalten und es zählt auch nicht zu den Eingriffen, die Studierenden dort, theoretisch oder praktisch, gelehrt werden. Auch in den Jahren, in denen die omanische Regierung diesen Eingriff in staatlichen Krankenhäusern erlaubte, wurden medizinisch Auszubildenden eine derartige Prozeduren und deren Hintergründe nicht beigebracht.“
Somit sind Mediziner auch allein gelassen mit der Frage, wie sie im Falle von Komplikationen eingreifen können. Während es in vielen Golfstaaten, wie Saudi Arabien und Kuwait, Spezialisten gibt, die auf die schwerwiegenden medizinischen Konsequenzen von FGM zu reagieren wissen und im Falle der extrem problematischen Geburten bei von FGM betroffenen Frauen helfen können, sind die Frauen im Oman komplett auf sich gestellt. Die sich somit auch im klinischen Alltag und allen Bevölkerungsgruppen niederschlagende Gefahr für fast alle Frauen hat also nicht einmal eine universitäre oder medizinische Entsprechung.
Es bestehen also hinreichende Gründe für diverse UN-Körperschaften, wie Unicef, UN Women und UNFPA, endlich zu handeln. Nicht nur sind sie über die Situation im Oman weitgehend informiert – in der Vergangenheit haben sie in zahlreichen Gesprächen mit Stop FGM Middle East und Wadi ihr Wort gegeben, in Rücksprache mit der Regierung des Omans einen Plan zur Intervention auszuarbeiten.
Vor zwei Wochen hat Stop FGM Middle East mit einigen Vertretern vom gemeinsamen Unicef-UNFPA-Programm über FGM gesprochen und um eine Stellungnahme zu den Ergebnissen der neuen Studie gebeten. Sie schienen unglücklicherweise noch nicht über die neuen, gravierenden Zahlen informiert und fanden bislang auch nicht die Zeit, sich damit zu befassen. Sobald sie sich doch noch zu einer Antwort entscheiden, werden wir ihren Kommentar auf unserer Seite veröffentlichen.
Aktueller Wissenstand über den Oman
Der Studie Habiba Al Hinais zufolge liegt die FGM-Rate Ash Sharqiyah Region bei etwa 90 %, in Dakhiliyah bei fast 100 % und in Batina bei über 80 % – wiewohl die jeweilige Anzahl der Befragten recht gering war und unter den zur Verfügung stehenden Geldern litt. Frauen aus Buraimi und al-Wusta konnten in ihrer Studie nicht berücksichtigt werden; lediglich fünf Frauen aus dem Gouvernement az-Zahira wurden befragt, von denen zwei angaben, genitalverstümmelt zu sein – eine viel zu geringe Stichprobe, um etwaige Schlüsse zur dortigen Situation ziehen.
Die Studie mit dem Titel “Placing Oman on the Map”, die eine Betroffenenquote von etwa 95,5 bis 99 Prozent genitalverstümmelter Frauen vermuten lässt, ist alarmierender als alle bisherigen Studien und alles bis dato über die Zustände im Oman Vermutete.
Auch ganz südlich der Dhofar-Region scheinen mehr als 90% der Frauen und Mädchen betroffenen zu sein. Zwar gibt es noch keine einschlägigen Studien hierzu, doch Einheimische berichteten glaubhaft, dass ein Entfliehen vor der Praxis fast unmöglich sei.
In der verhältnismäßig besten Situation befinden sich damit die Frauen aus der Hauptstadt Muskat, wo nur knapp über die Hälfte der Befragten angab, von FGM betroffen zu sein.
All diese Zahlen und Studien scheinen wenigstens oberflächlich früheren Untersuchungen des Omanischen Gesundheitsministeriums zu entsprechen, die zwar schwerlich überprüft werden können, von der Regierung damalig jedoch im „Fünf-Jahres-Gesundheitsplan 2006-2010“ zitiert wurden.
Dem Plan zufolge zeigte eine Studie über Einstellungen bei Jugendlichen im Jahr 2001, dass 80 Prozent der Frauen weibliche Beschneidung befürworten. Eine weitere regionale Studie zeigte, dass die Prozentzahl beschnittener omanischer Mädchen unter 3 in einigen Willayats (Gemeinden) bei 100% lag.
Es sieht also so aus, als gehöre Oman neben Ägypten, dem Sudan, Eritrea, Somalia, Mali, Guinea und Sierra Leone zu den Ländern, in denen die Verstümmelung weiblicher Genitalien am häufigsten vorkommt. Der UNO zufolge fallen in diese Kategorie jene Länder, in denen mehr als 80 Prozent der Frauen verstümmelt werden.