„Beschwichtigungen und Erniedrigungen“ – Gespräch mit dem Wadi Team in Erbil über weibliche Genitalverstümmelung (FGM)

Schon seit 2004 arbeitet Wadi mit einer wachsenden Anzahl von Teams, die auf die Aufklärung und Bekämpfung von FGM in verschiedenen Regionen Irakisch-Kurdistans spezialisiert sind: Unsere „Stop FGM Kurdistan“-Kampagne. Ihr übliches Vorgehen ist das Besuchen von Dörfern, in denen sie die Frauen um sich versammeln, nach ihren Lebensumständen und Problemen fragen, mit ihnen reden und Beziehungen aufbauen. Aufklärungsmaterial zu den Themen Frauenrechten, Gesundheit und FGM wird zur Verfügung gestellt, ein Awareness-Film geschaut und diskutiert. Mit diesem Tabu zu brechen ist die Grundlage für alle weitere Arbeit und die späteren Entscheidungen gegen das Verstümmeln der eigenen Töchter. Dialog und Debatten auch unter den Frauen (und Männern) anzustoßen ist dabei sehr wichtig, da gründliche und dauerhafte Veränderungen nur auf der Basis eines kollektiven Umdenkens stattfinden können. Wadi arbeitet zudem an der Beendigung von FGM in der ganzen Region mittels der „Stop FGM Middle East“-Kampagne.

Das folgende Interview ist Teil einer Publikationsreihe, in der Wadi-Mitarbeiterinnen aus unterschiedlichen Bereichen über ihre Arbeit, Erfahrungen und Meinungen reflektieren. Mit der Verbreitung ihrer Erfahrungen von vor Ort möchten wir die Stimmen für ihre und unsere Anliegen verstärken. In diesem Teil interviewt unsere Kollegin Shokh Mohammad die Sozialarbeiterin Kurdstan Rasul und die Juristin Payam Ahmad über ihre Arbeit in einem rein weiblichen Team, das in der Region Erbil unterwegs ist. Beide arbeiten seit Jahren an der Bekämpfung von FGM, der Erweiterung von Bildungsmöglichkeiten und Rechtsbewusstsein für Frauen, sowie vielfältigen, sonstigen Unterstützungssystemen für Frauen – abhängig von den jeweiligen Problemen.

Die Wadi-Mitarbeiterinnen Kurdstan Rasul und Shokh Mohammad leiten ein FGM-Seminar

Allein im August 2018 hat das Wadi Team in Erbil 55 „Aufklärung über Recht und Soziales“-Seminare durchgeführt, von denen 757 Frauen profitierten. 18 Frauen, die derzeit in Erbil inhaftiert sind, konnten eine individuelle Beratung erhalten.

Shokh Mohammad: Seit 2014 arbeitet Ihr in Eurem Team, was sind Eure Eindrücke aus der Zeit?

Kurdstan Rasul: Wir haben viel gesehen. Beschwichtigungen und Erniedrigungen in allen möglichen Bereichen – und auch die meiste hier ausgeübte Gewalt richtet sich gegen Frauen. Sogar, zum Beispiel, wenn ein Mann ein zweites Mal heiratet, wird es als Fehler der Erstehefrau dargestellt. Ich glaube, wir sind an sehr wichtigen Themen dran. Seit Jahrhunderten sind Männer in Familie und Gesellschaft damit beschäftigt, Frauen herabzuwürdigen, um ihre eigene Macht und Männlichkeit im Sinne von „Wir sind Männer, wir sind wichtig, wir haben das Sagen“ unter Beweis zu stellen. Es ist sehr schwer.

FGM nimmt ab. Es gibt nur noch einige wenige Dörfer, in denen FGM gehäuft praktiziert wird. Vorher war FGM derart gewöhnlich, dass es wirklich überall zu finden war..“

Mittlerweile können wir auch Erfolge feststellen, doch noch in den 90ern fand man oft keinerlei Unterstützung, wenn man die Themen FGM und arrangierte Ehen ansprach. Immer wieder wurden wir verbal angegangen. Aber schließlich änderte sich etwas. Ich glaube an meine Arbeit und ich denke, dass abgesehen von Kindern Frauen diejenigen sind, die unter männlicher Herrschaft am meisten leiden.

Aufklärung über die negativen Folgen von FGM

Payam Ahmed: Immer wieder sind Frauen Teil des Problems, indem sie aufgeben: Manche wollen nicht für ihre Rechte kämpfen und hören zudem nicht auf, brutal gegenüber ihren Töchtern oder Kindern zu sein. Ich glaube, dass Frauen auch an sich arbeiten müssen… auf der individuellen Ebene.

Ganz allgemein vertrauen viele Leute hier keinen NGOs. Das liegt daran, dass viele nur kurzzeitig auf der Bildfläche auftauchten und sich darauf konzentrierten, dass der Name der NGO größer wurde, statt den Leuten zu helfen.

SM: Wie hat sich in Euren Augen die Verbreitung von FGM nach der Umfrage von Heartland Alliance International entwickelt?

KR: FGM nimmt ab. Es gibt nur noch einige wenige Dörfer, in denen FGM gehäuft praktiziert wird. Vorher war FGM derart gewöhnlich, dass es wirklich überall zu finden war. Letztes Jahr nahm ich Mullahs mit in die Region, in der FGM der Umfrage zufolge noch weit verbreitet gewesen sei, und schon nach drei oder vier Besuchen hörte man auf damit. Die Mullahs haben großen Einfluss, was FGM anbelangt. Ich sagte ihnen: „Ihr habt die Probleme geschaffen, ihr müsst sie auch lösen.“  Es geht da um eine Sure. Die war zwar ohnehin flexibel auszulegen, aber die Art, auf die wir das nochmals adressierten, war entscheidend. „Schaut, all diese Mullahs widersprechen FGM, sie sagen, „tut das nicht, das ist schädlich!““ Das hatte einen großen, positiven Effekt auf unsere Arbeit.

Die Mütter in dieser Gesellschaft denken oft noch, was man mit ihnen gemacht hat, könnten ihre Töchter genauso aushalten.

Wenn ich mit Männern über FGM rede, reden wir oft über Sex, weil auch sie es toll fänden, wenn ihre Frauen es genießen würden. Das ist unsere Chance, auf sie zuzugehen und sie zu überzeugen. Für Frauen ist das aber eine Frage von Religion und Kultur. Manche Frauen beten oder fasten nicht einmal, aber praktizieren trotzdem FGM. Oder sie schlagen ihre Kinder. Diese Frauen glauben, dass Kinder durch Schläge diszipliniert werden müssen. Wir arbeiten an diesen Fragen, versuchen die Frauen dazu zu bringen, sich in die Lage der Kinder zu versetzen, lassen sie in ihre eigene Kindheit zurückkehren. Auch sie sprechen wir auf Sex an. Die Frauen sagen uns oft: „Wir werden sexuell nie befriedigt, aber das können wir nicht laut sagen.“ Wir fragen sie dann, ob sie wollen, dass es ihren Töchtern genauso geht, und sie verneinen das.  

PA: Im Großen und Ganzen hat es sich verringert… Es gibt noch einige Fälle, an denen man hart arbeitet, die aber sehr schwierig und in der alten Mentalität verhaftet sind. Aber andere Formen der Gewalt haben sich definitiv erhöht.

Gespräch mit Mullahs und anderen Männern, um FGM in ihren Gemeinden zu beenden

SM: Was sagt ihr zu Müttern, die ihre Töchter verstümmeln lassen wollen?

KR:  Ich sage ihnen, dass sie sich besser informieren sollen. Dass sie ihre Kinder bilden sollen. Wenn sie gebären, dann gehören ihnen nicht die Körper und Seelen der Kinder, dann haben sie nicht das Recht, an ihnen herumzuschneiden. So etwas lernen und verstehen Leute nur durch Bildung. Lesen und Bildung sind so notwendig wie Nahrung und alles andere.

PA: Die Mütter in dieser Gesellschaft denken oft noch, was man mit ihnen gemacht hat, könnten ihre Töchter genauso aushalten. Denn es ist auch den Generationen vor ihnen geschehen…

Meines Erachtens geht es hauptsächlich um die Angst. Eine Frau kann etwa von ihrem Ehrenmann permanent verprügelt werden, sodass es auch die Nachbarn mitbekommen haben müssen. Aber sie beschwert sich nie.

Wenn man aber heute mit jüngeren Eltern über FGM spricht, lässt sich ein größeres Bewusstsein für die Problematik und weniger Bereitschaft, es selbst zu praktizieren, feststellen. Sie wissen um die Schmerzen, und sie wollen diese Schmerzen nicht selbst zufügen, selbst wenn sie unter dem Druck ihrer Mütter und Großmütter stehen…

SM: Ihr bietet auch Seminare für Männer an. Was ist typischerweise deren Position bezüglich Gewalt und Geschlechterrollen?

KR: Was ich sogar schon von intellektuellen Männern gehört habe ist, dass sie sich, aus Gewohnheit, in Gegenwart ihrer Frauen keine Schwäche zeigen können. Ich denke, das ist ein Problem ihrer Erziehung. Als Kinder hatten weder Frauen noch Männer Rechte oder Pflichten und sie durften sich auch keine Meinung bilden. Wenn die eine Seite der anderen das zugesteht, ist das für letztere von Vorteil. Und der Machtstreit wird vorgesetzt, weil die Frauen die Entrechteten bleiben. Darüber klagen die Männer am meisten – besonders wenn es um das Thema Sex geht. Hier möchten sie ihre Frauen auf Augenhöhe haben. Manchmal sagen die Männer: „Frauen setzen Sex als Waffen gegen uns ein“.

Es gibt Männer, die im Alter von ihren Frauen vor die Tür gesetzt werden und ebenfalls Opfer von Gewalt werden.

PA: Es gibt tatsächlich Männer, die Gewalt erleben, wenn sie älter werden. Die Familien rächen sich auf diese Weise für die von dem Mann im jungen Alter an ihnen begangenen Gewalttaten.

SM: Sind Euch seit [den Gesetzestextänderungen von] 2011 Fälle bekannt, in denen FGM angezeigt wurde oder sogar vor Gericht kam?

KR:  Ja, einige Hebammen wurden erwischt, aber die Verfahren wurden alle eingestellt oder sind zu Gunsten der Angeklagten beendet worden. Auch letztes Jahr saß eine Hebamme im Gefängnis, die gegen Kaution freigekommen ist – ohne dass sich ihre Einstellungen geändert hätten.

SM: Finden die Menschen die Gesetzesänderung wichtig? Vertrauen die Leute darauf?

PA: Die 2011 neu erlassenen Gesetze decken eine ganze Bandbreite von häuslicher Gewalt ab, inklusive solcher zur Bestrafung; davor haben viele Angst. Auch gibt es Leute, die diese Gesetze für schändlich halten. Doch hauptsächlich geht es um private Ängste. Ich denke, das Gesetz ist zwar da und zur Kenntnis genommen, aber wer betroffen ist, denkt nicht wirklich daran.

KR: Meines Erachtens geht es hauptsächlich um die Angst. Eine Frau kann etwa von ihrem Ehrenmann permanent verprügelt werden, sodass es auch die Nachbarn mitbekommen haben müssen. Aber sie beschwert sich nie. Denn sie weiß, dass wenn sie es nach außen trägt, dies bedeuten kann, dass man sie umbringt. Wir sind es gewohnt, gefragt zu werden: „Wo sollen wir denn hingehen, nachdem wir es angezeigt haben?“ Bis heute, im Jahr 2018, sind die dominierenden Mächte die Familien und Stämme und nicht die Judikative. Es gab einen Fall, in dem sogar der Staatsanwalt einer Frau geraten hat, sie solle ihre Angelegenheiten im „Stammesgericht“ klären. Ungeachtet aller Furcht vor Bedrohungen.

Seminar mit Männern und Jungen über die Themen FGM und Gewalt gegen Kinder

SM: Habt Ihr selbst Schlimmes erlebt dadurch, dass ihr als Frauen so sensible Themen wie häusliche Gewalt und FGM behandelt?

KR: In den Dörfern erhalten wir bisweilen Drohungen, Verurteilungen oder Beleidigungen.  Einmal hat ein Dorfmullah unsere Flyer zerfetzt und die Bewohner dazu aufgefordert, dazuzustoßen und auf sie zu pinkeln. Wenn wir mit Männern über FGM reden, kommt es immer wieder vor, dass sie das Thema auf Zweitfrauen umlenken und unangemessene, sexualisierte Dinge von sich geben, ganz so, als müssten wir das einfach hinnehmen. Wir halten das aus, aber übergehen es und machen ihnen klar, dass wir wichtigeres zu besprechen haben und dann hören sie auf.

Ich habe den Eindruck, dass die meisten Männer große sexuelle Komplexe gegenüber ihren Frauen haben – größtenteils FGM geschuldet -, doch der Welt zeigen sie ein ganz anderes Gesicht.

Hin und wieder wird uns von Männern auch der Weg abgeschnitten und sie sagen uns dann, es gäbe keine Notwendigkeit, mit den Frauen zu reden: „Wollt ihr unsere Frauen verderben?!“ Doch wir lieben unsere Arbeit, auch wenn wir manchmal traurig werden. Das ist nur kurzweilig, wir machen weiter.

“Wild/Har” ist eine kurdische Bezeichnung für wilde Hunde und Tiere, eine despektierliche. Männer benutzen es auch für Frauen, die ganze Zeit. Nie haben wir andersrum Frauen das zu oder über Männer sagen hören. Frauen betonen hingegen ständig, wie wichtig es wäre, dass Männer sensibler werden. Wir stellen fest, dass alle Frauen möchten, dass Männer sich bessern. Das zeigt uns, dass Männer offenbar sehr stark um ihre Position in der Gesellschaft und Familie fürchten müssen.

PA: Ich habe den Eindruck, dass die meisten Männer große sexuelle Komplexe gegenüber ihren Frauen haben – größtenteils FGM geschuldet -, doch der Welt zeigen sie ein ganz anderes Gesicht. Sie beschuldigen diejenigen, die über FGM reden und sie fürchten, dass ihre Ehefrauen bei unseren Seminaren nur Ungehorsam lernen.

SM: Würdet ihr uns je noch ein Beispiel geben, wo eure Arbeit erfolgreich war?

KR: Es gibt ein Dorf in Qustapa, wo alle Männer Zweitfrauen hatten. Die jüngeren Männer planten es genauso zu halten und FGM-Quote war sehr hoch. Wir haben sie fortwährend besucht und jetzt kennen sie den Kampf gegen FGM und sie wissen auch um die Gesetzeslage. Die jüngeren Männer haben weiter geheiratet, aber keine Zweitfrauen genommen.

PA: In einem anderen Dorf trafen wir eine Teenagerin, die viel über den Kampf gegen FGM wusste – einerseits von unseren bisherigen Besuchen und andererseits, weil sie auch selbst recherchierte und das weiterverbreitete. Letztlich alles der Arbeit unseres Teams wegen.

Von euren Awareness-Seminaren abgesehen, macht ihr auch Umweltarbeit. Wie sehen die Menschen diese Projekte? Glaubt ihr, die Leute in Erbil sollten mehr auf Bäume und die Umwelt allgemein achten?

KR: Der Wassermangel mache das Pflanzen von Bäumen zu einem großen Problem, meinen die Leute. Aber solange sie Wasser zum Trinken und Baden und all ihre Notwendigkeiten haben, sollte am Ende auch Wasser für die Pflanzen und Bäume da sein. Ein ökologisches Bewusstsein ist hier wirklich noch nicht angekommen. Kinder sind dabei mit am schlimmsten: Sie zerstören Blumen und Bäume… und quälen und töten sogar Tiere. Wir denken aber, dass Videokampagnen im Fernsehen viel helfen können.

SM: Noch eine letzte Frage: Was würdet ihr der Dienststelle zur Bekämpfung von Gewalt und dem Bildungsministerium der Regionalregierung in Erbil raten, um die Kommunikation mit der Bevölkerung noch zu verbessern?

KR:  Sich mehr mit Anträgen zu befassen. Es wurden wiederholt Themen an sie herangetragen, die sie nicht beachteten. Die zum Frauenrechtsrat gehörende Dienststelle für die Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen sollte sich außerdem gegen die Wirksamkeit des Stammesrechts positionieren. [Außerdem braucht es mehr Schutzräume:] Viele Streitfragen sind an sich schon schwierig und zeitaufwändig – wie soll einer bedrohten Frau geholfen werden, wenn sie in ihrem Haus eingesperrt ist?

Unsere „Stop FGM Kurdistan“-Kampagne läuft nun seit 10 Jahren und ist beispielhaft für die Erfolge, die man mit Langzeitengagement gegen kulturelle und religiöse Probleme erzielen kann. Um die Verbreitung der Praxis in der Region vollständig zu beenden, werden wir noch weiterarbeiten müssen und Unterstützung benötigen. Wenn Sie für dieses Projekt spenden möchten, klicken Sie bitte hier.