Wadi-Rundbrief Winter 2021: #Be Responsible

Der neue Rundbrief von Wadi ist erschienen, in dem viele unserer aktuellen Projekte vorgestellt werden. Hier geht es zum Download.

Liebe Spenderinnen und Spender, liebe Freundinnen und Freunde,

rundtitelangesichts der Bilder und News, die einen täglich aus dem Nahen Osten oder den Grenzen Europas erreichen, fällt es einmal mehr schwer, nicht nur einfach zu verzweifeln. Dreißig Jahre Arbeit vor Ort und nichts scheint sich verbessert oder geändert zu haben. Im Gegenteil: Mehr Menschen auf der Flucht, im Jemen und Syrien drohen nun Hungersnöte, der Klimawandel macht sich in der Region noch wesentlich verheerender bemerkbar als in Mitteleuropa, und Hoffnung auf Änderung scheint nicht in Sicht. Stattdessen mussten wir erleben, wie die USA und Europa Menschen in Afghanistan, die auf ihre Unterstützung gehofft und gebaut hatten, im Stich ließen, und auch wir haben im August verzweifelt versucht, noch irgendwie Plätze in den wenigen Maschinen zu vermitteln, die aus Kabul abflogen. Wir mussten erleben, wie unsere afghanischen Kolleginnen und Kollegen vom »Moria Corona Awareness Team« auf Lesbos fassungslos den Nachrichten aus Afghanistan folgten, voller Sorge um das Wohlergehen von Familie und Bekannten, die zurück geblieben waren. Einzig etwas Genugtuung blieb ihnen: Sie hatten sich noch rechtzeitig entschieden, ihrem Land zu entfliehen, wohl ahnend, was sie dort erwarten würde. Trost konnte man ihnen dabei keinen geben, auch keine Hoffnung, nur ebenfalls verzweifelt den Kopf schütteln. Warum, so fragt man sich in solchen Momenten, soll man nicht einfach resignieren?

Verhärtete Verhältnisse

Diese Frage haben wir uns natürlich schon oft gestellt und dann doch weiter gemacht. Dass es dabei längst nicht mehr um die großen Veränderungen gehen kann, ist in den letzten Jahren auch uns schmerzhaft klar geworden. Von Freiheit, Demokratie und Emanzipation in globalem Maßstab ist längst nirgends mehr die Rede. Wer sich heute nicht mit den verhärteten Verhältnissen abfinden mag, gilt vielmehr als weltfremder Spinner oder Idealist. Dass es diese Verhältnisse sind, aus denen heraus nur die nächste Katastrophe erwächst, ist ganz aus dem Blick geraten.

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Also gilt es, – was bescheiden klingen mag, es aber nicht ist – im Kleinen an den Veränderungen weiter zu arbeiten, die im Großen unerreichbar scheinen. Es macht nämlich einen Unterschied, ob Menschen über ihr eigenes Leben bestimmen können oder nicht, selbst in Flüchtlingslagern oder abgeschriebenen Weltregionen. Diese Idee bestimmt unsere Arbeit, und wir nennen sie „Self-Ownership“. Leider lässt dieser Begriff sich nur unzureichend ins Deutsche übersetzen, denn er meint Vieles: Er bedeutet zunächst: über sich selbst bestimmen, etwa im Sinne körperlicher Unversehrtheit. Dieser Aspekt spielt eine besonders zentrale Rolle im Rahmen unserer Kampagne gegen weibliche Genitalverstümmelung. Er bezeichnet aber auch die Überzeugung, dass das, was man tut oder denkt, einem selbst gehört. Das mag sich auf das Selbstverständnis einer selbstorganisierten Gruppe beziehen, oder eben auch nur auf mündige Bürger:innen, die sich nicht weiter bevormunden lassen wollen.

Wer dauernd derart entmündigt wird, verliert das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, sich zu organisieren. Wessen Stimme nicht gehört wird, der empfindet sich als ohnmächtig und stumm.

Denn was in Europa oft selbstverständlich scheint, ist es im Nahen Osten noch keinesfalls: Hier bestimmen noch immer Politiker:innen, die über wenig Legitimität verfügen, religiöse Autoritäten, Familien oder Stammesoberhäupter über das Schicksal des/der Einzelnen. Und nicht nur sie: Ebenso oft meinen Repräsentanten ausländischer Organisationen, besser zu wissen, was für die Menschen gut wäre, als diese selbst. Wie oft haben wir schon von den so genannten »beneficiaries«, um die es am Ende doch gehen sollte, gehört, dass bislang niemand sie gefragt hätte, was sie eigentlich wollen.

Ein Teufelskreis

Es ist ein Teufelskreis: Wer dauernd derart entmündigt wird, verliert das Vertrauen in die eigene Fähigkeit, sich zu organisieren. Wessen Stimme nicht gehört wird, der empfindet sich als ohnmächtig und stumm. So zum Beispiel kann es dann auch politisch zu diesen großen Missverständnissen kommen: Wie oft schon haben wir in Diskussionen gehört, Menschen im Nahen Osten seien eben kulturell anders und wollten beispielsweise gar nicht in demokratisch verfassten Rechtsstaaten leben. Nichts könnte falscher sein: In allen Umfragen, die in der Region getätigt werden, erklären regelmäßig mehr als drei Viertel der Befragten, sie hielten die Demokratie für die beste aller Regierungsformen. In Europa sind es meist weniger, die so denken… Aber wie demokratische Strukturen schaffen in Gesellschaften, in denen über Jahrzehnte Diktatur und Autoritarismus jede Form von Selbstorganisation zerstört hat?

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An diesen Fragen setzt unsere Arbeit an. So führen wir zusammen mit unseren Partnern zum Beispiel seit Sommer 2020 Aufklärung über das Corona-Virus durch, die ganz gezielt an die Selbstverantwortung der/des Einzelnen appelliert. Sie nennt sich »Bürger zu Bürger«-Kampagne, und der Ansatz ist erfolgreich: Immer wieder kontaktieren uns Krankenhäuser, Behörden, ja selbst Moscheen, und bitten um Materialien – Plakate und Aufkleber – von dieser Kampagne. Sie sagen, die Menschen würden sie, anders als die standardisierten Informationen der Regierung und der UN, beachten und ernst nehmen. Denn auf Plakaten der UN beispielsweise sind oft Abbildungen von Menschen zu sehen, die ganz offensichtlich Europäer sind, auch der Kleidung nach. Das hat mit den Realitäten vor Ort so wenig zu tun wie etwa die guten Ratschläge an Flüchtlinge in den Camps, man solle doch besser zu Hause bleiben und 1,5 Meter Abstand halten. Nur: Was ist das »zu Hause«? Ein Zelt, das man sich mit Dutzenden anderen teilt? Und wie in einem völlig überfüllten Lager diesen Abstand einhalten?

Unsere Kampagne dagegen verwendet Material, das den Gegebenheiten gerecht wird und eben an die Verantwortung des Einzelnen appelliert. Gerade entwickeln wir gemeinsam mit Jesid:innen in den Camps Plakate, auf denen Enkel:innen mit ihren Großeltern zu sehen sind. Darüber steht: »Meine Großeltern haben den Terror des Islamischen Staates überlebt, wir möchten sie nicht an Corona verlieren. Deshalb: Lasst Euch impfen.«

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Das ist nur eines von vielen Beispielen aus unserer konkreten Arbeit vor Ort; andere stellen wir Ihnen in diesem Rundbrief vor. Sie alle haben eines gemeinsam: Sie wurden von den Menschen in der Region entwickelt und nicht von irgendwelchen Agenturen in Berlin, Brüssel oder New York. Und nicht nur das: Sie alle fühlen sich einem gemeinsamen Ziel verpflichtet, und das heißt Veränderung. Wir haben in letzter Zeit, egal ob im Irak, Syrien oder in den Flüchtlingslagern in Griechenland gesehen, wie internationale Hilfe viel zu oft nur noch dazu dient, unhaltbare und vor allem unmenschliche Zustände irgendwie zu zementieren. Wo die Ideen ausgehen und der Wille zu Veränderungen fehlt, kommen leider immer häufiger die Milliarden ins Spiel, die dann irgendwie Abhilfe schaffen sollen und es leider nur sehr selten wirklich tun.

Solidarische Zusammenarbeit statt Hilfsbusiness 

Inzwischen hat sich deshalb ein wahres Hilfsbusiness entwickelt, das mit den alten Ideen von solidarischer Zusammenarbeit nur noch wenig zu tun hat. Immer öfter taucht so die Frage auch auf: Wo ist das ganze Geld eigentlich geblieben? Über zwei Milliarden etwa wurde der griechischen Regierung seit 2015 in der Flüchtlingskrise zur Verfügung gestellt, und doch klagen unsere Partner:innen der Flüchtlingsselbsthilfeorganisationen in Lesbos, dass sie noch immer keine richtigen Heizungen in ihren Zelten haben. Und schlimmer noch war es in Afghanistan, wo Abermilliarden für Entwicklung und Hilfe ausgegeben wurden, bei denen selbst staatliche Untersuchungskommissionen nicht wissen, was mit einem Großteil dieser Gelder eigentlich geschehen ist.

Diese Entwicklung verfolgen und kritisieren wir ebenfalls seit Jahrzehnten, auch wenn unsere Stimme da wenig zählt. Aber sehr früh haben wir uns entschieden, obwohl entsprechende Angebote vorlagen und verlockend klangen, nicht zu groß zu werden, sondern unsere übersichtlichen und transparenten Strukturen beizubehalten und aus lokalen Projekten Partnerorganisationen zu machen, mit denen wir nun in einem Netzwerk zusammen arbeiten.

Dass es uns auch 2021 möglich ist, mit diesen Strukturen so viele Projekte und Programme zu unterstützen, die eben bewusst auf vieles verzichten, was heute eine NGO ausmacht, etwa PR- und Fundraising-Abteilungen, haben wir auch in ganz besonderem Maße Ihnen zu verdanken, die mit Ihrer Unterstützung und Spende diese Arbeit ermöglichen. Dafür einmal mehr einen großen Dank von uns allen.

Bitte helfen Sie uns mit Ihrer Spende, auch im neuen Jahr – allen Widrigkeiten zum Trotz – im Nahen Osten dafür zu sorgen, dass es an manchen Orten etwas besser wird.

Wir wünschen lhnen, Ihrer Familie und allen, die Ihnen am Herzen liegen alles Gute, und frohe Feiertage.

Ihr WADI-Team

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