Leben mit FGM – „Eine Wunde, die ich nie vergessen werde“

Wadis Living with FGMProgramm richtet sich an Frauen und Mädchen, die in ihrer Kindheit genitalverstümmelt wurden. Wir bemühen uns, gemeinsam mit ihnen Wege zu finden, damit sie besser mit den Folgen leben können. Zwei Teilnehmerinnen unserer Seminare berichten von ihren Erfahrungen.

fgm-bild1

Bild: Frauen in einem Dorf diskutieren mit einem Wadi-Team über FGM

Bereits vor 20 Jahren haben Wadi-Gesundheitsteams zum ersten Mal öffentlich gemacht, dass Genitalverstümmelung von Mädchen im kurdischen Nordirak weit verbreitet ist. Trotz eines seit 2011 geltenden gesetzlichen Verbots wird diese „Tradition“ in weiten Teilen der Region immer noch praktiziert. In einigen Regionen wie Garmyan und Halabja konnten Wadi und seine Partner vor Ort jedoch zeigen, dass sich kontinuierliche Aufklärungsbemühungen schließlich auszahlen: Dort ist FGM heute Geschichte.stopf

Das beweist: FGM kann ausgerottet werden, wenn man in langfristiges Engagement investiert, intensiv im direkten Gespräch vor Ort aufklärt und so allmählich ein Problembewusstsein schafft. Wadi begann in der gesamten Region die noch immer andauernde Kampagne „Stop-FGM-Kurdistan“, setzte sich erfolgreich für das gesetzliche Verbot von FGM ein und bezog auch die Medien mit ein. Allerdings verfügen wir nur über begrenzte Ressourcen, und bisher waren nur wenige andere Organisationen bereit, sich an der Präventionsarbeit zu beteiligen und sie auszuweiten. Deshalb konnten wir weite Teile des Nordiraks bisher nicht mit unserer Kampagne erreichen; FGM bleibt immer noch ein Problem in der Region.

Vor etwa 10 Jahren konnte Wadi einige FGM-Aufklärungsclips produzieren und im lokalen Fernsehen senden. Noch immer werden sie von Menschen in der Region erwähnt, was zeigt, wie hervorragend das Fernsehen als Aufklärungsmedium für breite Bevölkerungsschichten funktionieren kann.

Unsere Teams haben allerdings festgestellt, dass die Clips zwar ein Problembewusstsein wecken und damit eine gesellschaftliche Veränderung vorbereiten können, aber für sich alleine genommen meist noch keine Verhaltensänderungen bewirken.

In den Modellregionen, in denen wir mit viel Einsatz die FGM-Rate senken konnten, hat jetzt die zweite Phase unserer Kampagne begonnen: „Leben mit FGM“. Zwar werden Mädchen dort heute nicht mehr beschnitten, aber noch immer müssen viele tausend Mädchen und Frauen mit den schwerwiegenden Folgen dieser Misshandlung weiterleben. Wir wollen die durch die Verstümmelung verursachten körperlichen und psychischen Leiden lindern, individuelle und kollektive Wege finden, um mit den Folgen umzugehen und ein unterstützendes Netzwerk betroffener Frauen schaffen. Selbstverständlich wollen wir dabei auch Männer einbeziehen: Solidarität und gegenseitiges Verständnis sind für das Gelingen dieses Vorhabens unabdingbar.

Die folgenden Interviews wurden von Wadi-Mitarbeiterinnen geführt. Beide Interviewpartnerinnen, Frauen aus einem Dorf im Distrikt Kalar (Garmyan), nehmen am neuen Programm „Leben mit FGM“ teil.

Sewa Amin (Name geändert) wurde 1984 im Unterbezirk Rzgary geboren. Nachdem ihrer Hochzeit kehrte sie in ihre Heimat, das Dorf Goban, zurück. Im Interview sprach sie mit Wadi über ihre Erfahrungen mit FGM:

„Mein Vater hat zwei Frauen. Seine fünf Töchter von seiner ersten Frau sind alle beschnitten. Ich bin eine seiner Töchter von der zweiten Frau. Meine Mutter hat einen Sohn und drei Töchter. Unser Haus befand sich im Stadtteil Penjhazar – Unterbezirk Rzgary. Ich erinnere mich lebhaft und werde es nie vergessen: Als ich sechs Jahre alt war, besuchten wir einmal meine Großeltern im Viertel Hawthazar. Ich sah eine Gruppe junger Mädchen, meist etwa 10 Jahre alt, die sich in einem Haus versammelt hatten und eine nach der anderen beschnitten wurden. Der Horror und die Schreie wurden in der ganzen Straße wahrgenommen. Eines der Mädchen, das älter war als wir, rannte mitten in der Prozedur weg. Ihre halbe Klitoris war abgeschnitten. Dieses Mädchen ist heute meine Freundin, sie lebt noch immer mit einem halb verstümmelten Genital.

Dutzende Mädchen gleichzeitig verstümmelt

Es waren so viele Mädchen da, dass die Hebamme sie in zwei Gruppen aufteilen musste. Die erste Gruppe war über 10 Jahre alt und die zweite jünger. Meine ältere Schwester war in der älteren Gruppe. Sie wurden in einem Haus verstümmelt und die unter 10-Jährigen in einem anderen Haus. Die Mädchen kamen schreiend heraus und konnten nicht mehr laufen. Ich fragte sie, was los sei. Sie riefen, sie seien beschnitten worden. Ich hatte keine Ahnung was das sein sollte, war aber sehr aufgeregt und hielt es für eine interessante Sache. Ich sammelte meine Freunde ein, rannte zu meiner Mutter und bat sie, mir eine Rasierklinge zu geben, damit ich zu Tante Sabri gehen und mich beschneiden lassen konnte. Meine Mutter war sehr glücklich und begeistert. Sie gab mir sofort eine Rasierklinge. Ich rannte zum Haus von Tante Sabri. Sie war eine Frau in den Vierzigern, die in der Nachbarschaft lebte. Ich ging dort hin, und sofort packten sie mich und zogen mir die Unterhose aus. Sie fingen an, mich zu schneiden. Ich war geschockt. Ich schrie mir die Lungen raus. Dann sagten sie: ‚Du kannst jetzt gehen.‘ Ich hatte verstanden, was eine Beschneidung war und bereute alles. Ich wurde sehr krank und lag drei Tage lang blutend im Bett.

Die Beschneidung hat eine Wunde in mir hinterlassen, die ich nie vergessen werde.

Meine jüngere Schwester wurde nicht verstümmelt. Inzwischen waren wir über das durch Beschneidungen verursachte Leid aufgeklärt worden, und so wurde sie zum Glück davor bewahrt. Jahre später zog Tante Sabri in eine andere Gegend. Meine Mutter ersetzte sie. Jetzt fing sie an, junge Mädchen zu verstümmeln! Zuerst in unserer Großfamilie, dann machte sie mit den Mädchen im Dorf weiter. Eines Tages erhielten wir Besuch von einem Mann und einer Frau, die für Ihre Organisation arbeiteten. Sie erzählten uns von FGM und ihren Nebenwirkungen. Danach beschloss meine Mutter, nie wieder ein Mädchen zu verstümmeln.“

Sewa Ahmed fügte hinzu: „FGM hat eine Wunde in mir hinterlassen, die ich nie vergessen werde. Ich bedauere so sehr, dass es damals niemanden gab, der uns davor gewarnt hat, wie es nun Wadi tut. Niemand hat uns gesagt, dass es uns zu behinderten Frauen machen wird. Bis zu dem Tag, an dem Wadi in unser Dorf kam und uns sagte, dass Genitalverstümmelung schädlich ist und nichts mit religiösen Geboten des Islam zu tun hat, hatten wir überhaupt keine Ahnung. Als Mädchen hatte ich viele gesundheitliche Probleme, von denen ich nicht wusste, dass sie mit FGM zusammenhängen. Als ich 13 war, wurde ich mit einem Mann verheiratet, den ich nicht kannte. Ich hatte Entzündungen und andere Probleme, bis hin zu einer schwierigen Geburt. Ich ging viele Male zum Arzt, aber ich hätte nie gedacht, dass meine gesundheitlichen Probleme etwas damit zu tun haben, dass ich verstümmelt wurde. Andererseits hatte ich davor viele Probleme, weil ich nicht beschnitten war. Man sagte mir, das von mir zubereitete Essen sei unrein und nicht genießbar.

Ich möchte nicht, dass meine Töchter überhaupt etwas von Beschneidung hören.

Vor einiger Zeit habe ich an einem Seminar von Wadi über FGM teilgenommen. Es hat mich zutiefst betroffen. Noch im Vorjahr war ich entschlossen, auch meine Töchter beschneiden zu lassen, aber seit diesem Seminar bin ich vollkommen davon überzeugt, die Beschneidung nicht durchzuführen. Ich möchte nicht, dass meine Töchter überhaupt von Beschneidung hören. Ich will, dass dieser Brauch vollständig verschwindet, weil er den Sexualtrieb der Frauen beeinträchtigt. Ohne Wadi wären meine Töchter längst verstümmelt worden. Ich hoffe, Sie klären die Menschen weiter auf! Damit meine ich vor allem das Programm „Leben mit FGM“. In fünf Sitzungen lernten wir, psychische, sexuelle und gesundheitliche Probleme von FGM zu erkennen und mit unseren Ehemännern darüber zu reden, um Unterstützung zu bekommen.“

fgm-men2

Bild: Auch Seminare mit Männern sind wichtig

Chnur Ali (Name geändert) wurde 1985 geboren. Sie lebte einige Jahre in Dawlatabad-Kermanshan (Iran). Dann kehrte sie mit ihrer Familie nach Irakisch-Kurdistan zurück. Heute leben sie im Dorf Goban. Chnur erzählte uns: „Ich war sehr jung, als meine Mutter starb. Ich habe mein ganzes Leben bei meiner Stiefmutter gelebt. Als ich sechs war, lebten wir im Iran. Mein Vater bestand auf meiner Beschneidung; er würde sonst keinen Tropfen Wasser aus meinen Händen trinken. Deshalb brachte meine Tante – sie hatte sechs Schwestern, und auch sie waren alle verstümmelt worden – eines Tages eine alte Hebamme, die 60 Jahre alt war. Sie hat mich und ihre Tochter beschnitten. Alle Frauen in meiner Familie wurden verstümmelt. Das ist für uns wie eine Tradition. Mein Vater war sehr glücklich. Ich weiß nicht mehr, was sie der Hebamme dafür gaben.

Ich hatte überhaupt keine Ahnung

An dem Tag, als die Hebamme zu uns nach Hause kam, hatte ich keine Ahnung, was passieren würde. Sie haben mir nichts gesagt. Ich wurde nicht vorbereitet und niemand fragte nach meiner Zustimmung. Ich wusste nur, dass sie meine Cousine gepackt und in den anderen Raum gezerrt hatten. Ich hörte sie schreien. Plötzlich packten sie auch mich. Ich versuchte mit aller Kraft wegzulaufen, aber es war zu spät. Sie verstümmelten mich und sagten mir, ich solle aufstehen und aufhören zu schreien. Ich hatte so große Schmerzen, war ganz allein ohne meine Mutter, blutete eine Woche lang und konnte weder essen noch schlafen.

Später wanderten wir aus dem Iran ins irakische Kurdistan aus. Einige Jahre später, mit 16, heiratete ich und wir zogen nach Goban.“

Chnur ist eine Teilnehmerin des Wadi-Programms „Leben mit FGM“. Sie erzählt weiter: „Nach meiner Hochzeit, hatte ich ständig Probleme beim Sex, einen schwachen Sexualtrieb, Schmerzen. Ich fühle mich oft müde und depressiv. Dadurch gab es Probleme in meiner Beziehung – aber wir hätten nie gedacht, dass die Beschneidung die Ursache war. Wir dachten immer, es sei unsere Schuld. Es ist uns nie in den Sinn gekommen.

Ich habe keine meiner Töchter verstümmeln lassen.

Noch letztes Jahr hielt ich die Beschneidung für richtig und wollte auch meine sechs Töchter beschneiden lassen. Ich hielt es für eine religiöse Tradition und dachte, es sei eine Sünde, auf die Beschneidung zu verzichten. Aber dann hörte ich den Mullah sagen, die Religion verlange es gar nicht. Im Fernsehen brachten sie einen Bericht, dass FGM verboten sei, und dann hatten wir Wadis Seminare im Dorf. Danach war ich davon überzeugt, dass das sehr schädlich ist und habe keine meiner Töchter verstümmeln lassen. Mein Mann weiß von meiner Beschneidung, er hilft mir oft und unterstützt mich. Er weiß, dass es unser Sexualleben beeinflusst. Ich bin fest davon überzeugt, dass meine Töchter ohne Wadis Kampagne gegen FGM inzwischen verstümmelt worden wären. Ich bringe die Hefte und Flyer immer mit nach Hause. Obwohl ich nicht lesen kann, gebe ich sie meiner Tochter, damit sie sie mir vorliest. So erfuhr ich vom Gesetz Nr. 8 gegen FGM und häusliche Gewalt. Wenn ich an all die Lügen denke, mit denen die Hebammen uns gefüttert haben, über religiöse Tradition und wie schmutzig und sündig unbeschnittene Mädchen sind, werde ich wütend. Ich habe auch meinen Verwandten und Freunden davon erzählt. Ich warne sie davor, ihre Töchter zu verstümmeln und gebe ihnen alle Informationen über die gesundheitlichen und psychischen Probleme im Zusammenhang mit FGM. Ich hoffe, dass auch Männer diese Seminare besuchen werden, damit sie unser Leid spüren und uns verstehen können.“

Dieses Projekt wird vom niederländischen Außenministerium unterstützt. Mehr Informationen zu unserer Kampagne zu #StopFGM hier.