Wie ein Fachjournal weibliche Genitalverstümmelung verharmlost

Ein Aufsatz im renommierten „Journal for Medical Ethics“ wirft der globalen Bewegung gegen weibliche Genitalverstümmelung (FGM) Rassismus und Ethnozentrismus vor und stilisiert FGM zur kulturell schützenswerten Praxis.

Von Arvid Vormann, Jungle Blog, 25.12.2025

(Eine „Beschneiderin“ in Kenia gibt ihr Werkzeug im Rahmen einer Kampagne gegen FGM ab, Qielle: Linkedin)

26 Soziologen, Anthropologen, Ethnologen und verwandter Disziplinen haben gemeinsam einen viel beachteten Aufsatz im „Journal for Medical Ethics“ veröffentlicht, in dem sie beklagen, der Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung sei von einem „stark rassistischen und ethnozentrischen Weltbild“ getrieben, er übertreibe die Schäden und blende kulturelle Bedeutungen aus. Dies führe letztlich zu rassistischem „Profiling“ und Überwachung von Migranten, Menschen „aus den Communities“ verlören das Vertrauen in das Gesundheitssystem und ihre Stimmen würden „zum Schweigen gebracht“.

Doch auch ihr eigener Appell verschafft den Stimmen „aus den Communities“ kein Gehör; die Autorinnen und Autoren sind allesamt an westlichen akademischen Einrichtungen tätig oder stehen diesen nahe. Auch die Anthropologin Fuambai Ahmadu, als Autorin an erster Stelle genannt, stellt in dieser Hinsicht keine Ausnahme dar: Sie wuchs in den Vereinigten Staaten auf, wo sie auch ihre akademische Karriere begann, und erwarb ihren Doktortitel an der London School of Economics. Erst seit einigen Jahren lehrt sie an der Universität von Sierra Leone. Ahmadu sowie eine Reihe weiterer Autoren, darunter Janice Boddy und Richard A. Shweder, setzen sich seit Jahrzehnten im akademischen Diskurs dafür ein, FGM als akzeptable, ehrwürdige Praxis darzustellen. Dabei betonen sie die kulturelle Bedeutung dieses „Rituals“, das Identität und Gemeinschaftsgefühl fördere sowie Frauen in patriarchalischen Gesellschaften emotional stärke und ihnen Kontrolle über ihre Körper zurückgebe (vgl. z.B. Boddy, Janice: Civilizing Women. British Crusades in Colonial Sudan. Princeton 2007, S. 200). Anstrengungen zur Ausrottung dieser Praxis ignorierten diese Zusammenhänge und stigmatisierten die Betroffenen als Verstümmelte, trieben ihnen so gewissermaßen den Stolz auf ihre Kultur aus und kolonisierten sie und ihre Werte. 

Bestrebungen seit den 90er Jahren

Bestrebungen, die Genitalverstümmelung vermeintlich „neutraler“ zu benennen und etwa von „Genitalbeschneidung“ (Female Genital Cutting, FGC) zu sprechen, gab es bereits seit den Neunziger Jahren. Eine bekannte Vertreterin dieser Forderung ist die gebürtige Somalierin und selbst betroffene Fadumo Korn. Sie ist der Meinung, der Begriff „Verstümmelung“ könne Frauen auf ihre Rolle als Opfer reduzieren und sie stigmatisieren. Auch im universitären Umfeld und im NGO-Bereich ist diese Ansicht anzutreffen. Insgesamt lässt sich sagen, dass der Begriff „FGM“ den Fokus eher auf Abschaffung und den Schutz der Mädchen legt, während „FGC“ oder „FGM/C“ den kulturellen Kontext mit einbeziehen will, um so Stigmatisierung entgegenzuwirken und die betroffenen Frauen und Mädchen zu stärken. In den letzten Jahren ist diese Sprachdebatte kaum noch geführt worden, und man hat sich weitgehend auf den Terminus „Genitalverstümmelung“ bzw. FGM geeinigt. UNICEF führt auf seiner Webseite zum Begriff „Mädchenbeschneidung“ aus: „Inzwischen hat sich international die Einschätzung durchgesetzt, dass der Begriff zu verharmlosend klingt und daher nicht angemessen ist.“ 

Pauschale Bemühungen gegen Beendigung von FGM

Weder Frau Korn noch andere, die lieber von „Beschneidung“ sprechen möchten, wenden sich aber pauschal gegen Bemühungen, FGM zu beenden, im Gegenteil. Darin unterscheiden sie sich grundsätzlich von Ahmadu und anderen aus der Gruppe der 26, die den „Schaden“ bedauern, den die globale Anti-FGM-Kampagne anrichte. Ihre Argumentation ist dabei nicht stringent und bleibt bewusst vage. Man beruft sich auf die Pluralität der Sitten, Riten und Ansichten, um letzten Endes nahezulegen, dass jegliche Einmischung in lokale „Traditionen“ eine unzulässige Grenzüberschreitung sei. Dabei vermeidet man es, explizit Position zu beziehen und legt Wert darauf, FGM weder ausdrücklich zu befürworten noch zu verdammen. Alles sei eine Sache des Kontextes, und Außenstehende hätten weder das Recht noch die Kompetenz, zu urteilen. Schließlich gebe es so viele Gründe, eine bestimmte Position einzunehmen, und alle hätten gewissermaßen ihr Legitimes: So legten manche bei diesem Thema Wert auf Freiwilligkeit oder körperliche Selbstbestimmung, manche bezögen sich auf medizinische Gründe, manche auf religiöse oder traditionelle Erwägungen, manche führten Kinderrechte an, andere höben das Recht der Eltern hervor, über ihre Kinder zu verfügen und verlangten, dass der Staat sich raushalte. Wer, so der Subtext, wolle da urteilen, was richtig und was falsch sei? Selbst die Autorinnen und Autoren seien da doch nicht einer Meinung! Deutlich wird hier, dass die gesamte Argumentation mit der Relativierung von unveräußerlichen Menschenrechten steht und fällt.

Vermeintliche Widersprüche

Behauptet wird, dass die globale Anti-FGM-Kampagne sich einseitig gegen eine ausschließlich Frauen betreffende und vorwiegend in Afrika vorkommende Praxis wende, welche vollkommen anders als alle vergleichbaren Praktiken in anderen Teilen der Welt behandelt werde. Hier seien rassistische Stereotype und westliche Sensationslüsternheit am Werke. Man übertreibe die Risiken und führe immer wieder nichtrepräsentative extreme Beispiele an. Weiterhin erklären die Autorinnen und Autoren ohne Angabe von Quellen, sehr viele FGM-betroffene Frauen hätten ein erfüllendes Sexualleben und litten nicht unter gesundheitlichen Folgen. 

Doch welche vergleichbaren Praktiken? In ihrer Begründung stützen sie sich gezielt auf Widersprüche oder auch nur scheinbare Widersprüche in modernen westlichen Gesellschaften. So verweisen sie nicht ganz zu Unrecht auf die überall legalen Jungenbeschneidungen, um eine Doppelmoral im Hinblick auf FGM zu konstatieren. Nach allgemeiner Auffassung ist weibliche Genitalverstümmelung ein sehr viel schwerwiegenderer Eingriff und verursacht mehr Schaden, Trauma und Schmerzen, doch – und da haben die Autoren einen Punkt – es kommt tatsächlich auf den Grad der jeweiligen Verstümmelung an. Auch Beschneidungen von Jungen sind keine harmlose oberflächliche Angelegenheit und können erhebliche, lebenslange Spätfolgen nach sich ziehen. Es ist richtig, auf dieses Messen mit zweierlei Maß hinzuweisen, allerdings kann ein Unrecht niemals ein anderes rechtfertigen. Noch weniger relevant erscheinen Verweise auf Operationen an intergeschlechtlich geborenen Kindern, die heutzutage so nicht mehr durchgeführt werden, oder auf genitale Schönheitsoperationen, die fragwürdig sein mögen, denen sich aber erwachsene Frauen aus eigenem Willen unterziehen. Hier mit normativem Gruppendruck zu argumentieren hieße, das Konzept des freien Subjekts gleich ganz preiszugeben.

Nicht ganz von der Hand zu weisen ist das Argument, weibliche Genitalverstümmelung erscheine in der öffentlichen Wahrnehmung immer als die vor allem in Teilen von Ostafrika praktizierte Infibulation, Typ III der WHO-Klassifikation, die jedoch die insgesamt am wenigsten verbreitete Form sei. Es ist richtig, das Infibulation nach allem, was wir wissen, lediglich in Somalia die Mehrheit der FGM-Fälle ausmacht. Die am meisten verbreitete Form ist Typ II, die Entfernung der Klitoris und der inneren und/oder äußeren Schamlippen. Diese populäre Fehlwahrnehmung sollte allerdings nicht zu dem Umkehrschluss verleiten, Typ I und II seien im Grunde harmlos. Das Gegenteil ist richtig. Die körperlichen und seelischen Spätfolgen und möglichen Komplikationen sind erheblich und vielfältig, wie gerade eine neue groß angelegte Metastudie der WHO ergab.

Eine Frage bleibt: Was treibt dieses „Journal for Medical Ethics“, das immerhin zum renommierten „British Medical Journal“ gehört, dazu, einen solch gefährlichen und abwegigen Unsinn zu publizieren? Gibt es dort keinerlei ethische Standards oder auch nur Mindestanforderungen an die Überprüfbarkeit von Fakten?