Von der eigenen Familie missbraucht

Unsere Teams in der Region Germian haben im Rahmen unserer laufenden Kampagne gegen Gewalt einen der ersten je in Kurdistan publizierten Artikel über sexuelle Gewalt in Familien veröffentlicht. Er erschien unlängst in der Zeitung Nawzhin

Sexueller Missbrauch ist bekanntlich ein weit verbreitetes Phänomen – nicht nur im Irak und in Irakisch-Kurdistan, sondern im gesamten Nahen Osten und im Grunde weltweit.

Zunächst war es Ziel unserer Kampagne, Gewalt gegen Kinder an den Schulen und im Elternhaus zu bekämpfen. Im Zuge unserer Arbeit haben wir dann aber aus erster Hand von den vielen verschiedenen Formen von Gewalt erfahren, denen Kinder und Jugendliche im Irak täglich ausgesetzt sind. Daraufhin haben wir das Themenspektrum unserer Kampagne erweitert und auch sexuelle Gewalt in den Blick genommen.

Hier die Übersetzung dieses beeindruckenden Artikels:

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Originalartikel, veröffentlicht von Wadi’s Germian-Team in Nawzhin

Sexueller Missbrauch von Mädchen wird dieser Tage als Randphänomen angesehen und kaum thematisiert. Es gibt nur wenige gemeldete Fälle; die meisten werden geheim gehalten. Die Opfer schweigen aus Angst vor ihren Peinigern. Außerdem fürchten sie die Reaktionen der Leute, denn die Gesellschaft neigt eher zur Beschuldigung der Opfer als zur Verurteilung der Täter. Diejenigen, die nicht schweigen, haben verheerende Konsequenzen zu fürchten.

Exemplarisch wollen wir hier einige Geschichten von Betroffenen schildern (aus Sicherheitsgründen nennen wir ihre Namen nicht):

Der Fall von C., 25 Jahre. Als sie 11 Jahre alt war, ließ ihr Vater sie glauben, dass alle Väter und Töchter miteinander Sex hätten. Mehrfach hat ihre Mutter die beiden dabei gesehen, ohne einzugreifen, da sie selbst psychologische Probleme hatte, die sie glauben ließen, dass alles normal sei. Die Situation setzte sich mehrere Jahre derart fort, dass ihr Vater eher mit C., als mit ihrer Mutter zusammen war. Auch ihr Bruder drängte sie, mit ihm zu schlafen, indem er klagte: „Wie kann es normal sein, es mit dem Vater zu tun, aber nicht mit mir?“

Mit 14 Jahren vertraute sie ihrer Nachbarin an, was sie zu Hause erlebte, und die empfahl ihr, zur Polizei zu gehen. Die Polizisten brachten sie zwar in ein Frauenhaus, doch alle rieten ihr, den Fall auf sich beruhen zu lassen, da sie anderenfalls viel Ärger riskierte. C. blieb im Frauenhaus, bis man für sie schließlich einen 20 Jahre älteren Mann gefunden hatte, der sie heiratete. Doch ihr Vater drang auch in dieses neue Leben wieder ein und belästigte sie erneut.

Schließlich setzte ihr Ehemann sie (und ihre zwei gemeinsamen Kinder) vor die Tür.

C. treibt die Frage um, warum ihr Vater niemals von der Polizei verhaftet wurde. Sie resümiert: „All mein Unglück begann damit, dass mein Vater mich vergewaltigt hat, ohne dafür bestraft zu werden“.


A., 17 Jahre. Nach dem Tod ihres Vaters sollte sich der Onkel um sie und ihre Mutter kümmern. Als einmal ihre Mutter außer Haus war, nutzte er die Gelegenheit, um sie zu vergewaltigen. Sie berichtet: „Mein Onkel schloss die Tür. Sein Gesicht sah ganz anders aus, und plötzlich  fiel er über mich her. Ich schrie so laut ich konnte, und ich wehrte mich und konnte mich so retten. Ich lief und lief, bis ich meine Mutter fand, und ich erzählte ihr alles. Wir haben sofort die Polizei verständigt. Trotzdem habe ich ihm, nur wegen meiner Mutter und wegen dem Gerede der Leute, verziehen.“

Sie fährt fort: „Ich traue jetzt keinem Mann mehr. Ich sehe immer meinen Onkel vor mir, wie er mich angriff.“ A. fragt sich, wie viele Mädchen sexuell missbraucht werden und nichts sagen – wie viele sich nicht trauen, über ihre schrecklichen Erlebnisse zu sprechen.


S., 29 Jahre, klagt gegen ihren Schwager, der ihre vierjährige Tochter sexuell missbraucht hat. Sie erzählt uns: „Die Familie meiner Schwester war bei uns zu Besuch. Sie haben gearbeitet. Als ich dann abends um 11 nach meiner Tochter sah, die normalerweise um diese Zeit einschläft, traf ich dort meinen Schwager an. Er hatte meiner Tochter die Schlafanzughose heruntergezogen und sich sexuell an ihr vergangen!

Als ich das sah, fiel ich in Ohnmacht. Danach mochte ich nicht mehr in meinem eigenen Haus sein. Meine Tochter hatte einen Schock und verhielt sich unruhig.“ S. erklärt, dass sie nach Erstattung der Anzeige gegen ihren Schwager sehr viel Ärger bekam. Ihre Familie forderte sie dazu auf, die Klage fallenzulassen und ihm zu vergeben, damit er freigelassen würde. Aber sie wollte nicht einknicken.

S. fährt fort: „Nach dieser Geschichte habe ich meinem eigenen Mann nicht mehr erlaubt, meine Tochter auf den Arm zu nehmen. Ich halte einfach keine Männer mehr aus. Ich werde nie vergessen, wie meine Tochter geschrieen hat.“


N., 35 Jahre, wurde vom Mann ihrer Tante sexuell belästigt. Sie schildert ihre Geschichte: „Nach dem Tod meiner Eltern, als ich neun war, nahm mich die Familie meiner Tante auf. Ich sah sie als meine neuen Eltern an. Eines Tages, als ich 12 war, war ich gerade im Stall, als der Mann meiner Tante (damals 50 Jahre alt) zu mir kam und mich fragte, ob ich ihm den Nacken massieren könnte. Plötzlich packte er meine Hände und vergewaltigte mich dann. Das hat er dann über vier Jahre hinweg immer wieder getan. Er hat gedroht, mich zu töten, wenn ich jemandem davon erzähle. Das hat etwas in mir verändert. Auch andere Männer kamen und wollten das Gleiche. Als ich 15 war, fand meine Tante es heraus. Sie warf mich raus und verletzte mich sehr. Schließlich verheiratete sie mich mit einem alten, behinderten Mann.“

N. bekam drei Kinder von diesem Mann, der sie ebenfalls missbrauchte. Sie erzählt davon, wie er ihr einmal ins Bein geschossen hat. Auch von ihm wurde sie eines Tages vor die Tür gesetzt.

N. fragt sich dauernd, wie ihr Leben ausgesehen hätte, wenn ihre Eltern nicht gestorben wären. Hätte sie dann auch so ein miserables Leben? Und sie macht sich große Sorgen um ihre Kinder. Welche Zukunft haben sie denn ohne ihre Mutter?


M., 13 Jahre alt, zeigt verschiedene Verhaltensauffälligkeiten, die auf psychische Probleme hindeuten.

Sie sagt: „Mein Bruder benimmt sich sehr merkwürdig; er versucht immer, mir nahe zu kommen, und das macht mir Angst. Ich habe meiner Mutter davon erzählt, weil ich gehofft habe, dass sie mir hilft. Aber sie hat mich angespuckt und mir ins Gesicht geschlagen.“

Wir wissen nicht, wie verbreitet innerfamiliäre sexuelle Gewalt tatsächlich ist, weil sich die meisten dieser Geschichten immer noch im Verborgenen abspielen. Aber wir müssen anfangen, darüber zu reden und ein Bewusstsein dafür schaffen, dass es diese Dinge gibt. Das muss der erste Schritt sein, wenn wir diese Gewalt stoppen wollen.

Aus: Nawzhin newspaper

Von: Gwlbakh Hasan